Angesichts der Tatsache, dass die Hinrichtung von Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti vor beinahe 85 Jahren, am 22. August 1927, stattfand, scheint es erstaunlich, dass ihre Namen immer noch vertraut klingen, auch wenn nur noch Wenige ihr tatsächliches Schicksal kennen mögen. Aus der heutigen Sicht ist das Ausmaß der internationalen Aufmerksamkeit, das ihre Verhaftung, ihre Verurteilung wegen Mordes bis zur Vollstreckung des Todesurteils hervor rief, gar nicht mehr zu ermessen, denn lange vor unserem medialen Zeitalter gingen nicht nur in den USA, sondern weltweit hunderttausende Menschen auf die Straße, um für ihre Freilassung zu demonstrieren, bis zu einer der größten Demonstrationen in Deutschland während der Weimarer Republik, als sich nach ihrem Tod etwa 150000 Menschen in Berlin versammelten.
Dabei handelte es sich bei Sacco und Vanzetti um einfache Arbeiter aus Italien, die wie viele Europäer erst wenige Jahre zuvor in die USA eingewandert waren. Ihre kommunistische Haltung und ihr Selbstverständnis als Anarchist hatten sich dort, angesichts äußerst schwieriger Arbeitsbedingungen besonders für die Einwanderer, gestärkt, weshalb sie sich in der immer größer werdenden Arbeiterbewegung engagierten. Der konservativen Regierung und dem Großteil der alteingesessenen Bevölkerung konnte diese Entwicklung nicht gefallen, die durch die erfolgreiche Revolution in Russland 1917 zusätzlich motiviert wurde. Nachdem es vermehrt zu Aufmärschen und Streiks, aber auch Bombenattentaten kam, für die die Anarchisten verantwortlich gemacht wurden, begannen umfangreiche polizeiliche Maßnahmen.
Der Film im historischen Kontext:
Als Giuliano Montaldos Film "Sacco e Vanzetti" 1971 in die Kinos kam, lagen diese Ereignisse zwar schon ein halbes Jahrhundert zurück, aber der Film traf trotzdem den Nerv einer Zeit, in der sich die Gesellschaft wieder im Umbruch befand. Montaldo, der zuvor mit Regisseuren wie Carlo Lizzani in "Achtung! Banditi" (1951), Elio Petri in "L'assassino"(1961) oder Gillo Pontecorvo in "Kapò" (1960) und "La battaglia di Algeri" (1966) zusammen gearbeitet hatte, ließ keinen Zweifel an seiner eigenen Haltung erkennen – er hielt das Urteil für unrecht und politisch motiviert. Der in Schwarz-Weiß gehaltene Vorspann, der den massiven Polizeieinsatz gegenüber einfachen Bürgern, darunter Frauen und Kinder, zeigt, dazu die Verwendung von Schlagstöcken bis zu rigorosen Verhörmethoden, stärkt diesen Eindruck. Nicht zufällig endet die Einleitung mit dem Fall eines Mannes aus dem 14.Stock eines Polizeigebäudes.
Die Parallele des bis heute ungeklärten Sturzes des Setzers Andrea Salsedo am 03.05.1920, der zuvor in einer Druckerei, die Flugblätter hergestellt hatte, verhaftet wurde, zu dem Fenstersturz des Anarchisten Giuseppe Pinelli am 15.12.1969 in Mailand, ist offensichtlich. Gian Maria Volonté, der die Rolle des Vanzetti übernahm, hatte den Tod Pinellis, der in Italien für erhebliches Aufsehen sorgte, 1970 in "Documenti su Giuseppe Pinelli" gemeinsam mit Elio Petri und Nelo Risi verarbeitet, unterstützt von einer großen Anzahl Filmschaffender. Weitere Parallelen zeigten sich in den Bombenanschlägen, die den Kommunisten angelastet wurden, und den Streiks, bei denen die Arbeiter von den Studenten unterstützt wurden („Autumno caldo“), von Elio Petri in „La classe oparaia va in paradiso“ (1971) thematisiert. Ähnlich wie damals die us-amerikanische Regierung, glaubte die italienische Staatsführung einen möglichen Putsch von Links verhindern zu müssen, obwohl die KPI, unterstützt von einem Drittel der Bevölkerung, unter der Führung von Berlinguer konstruktiv an einer praktischen Zusammenarbeit mit der christdemokratischen Regierung interessiert war.
Montaldo konnte 1971die zukünftigen Konsequenzen noch nicht ahnen, die später zu einer beinahe völligen Auflösung der KPI führte, aber die Methodik, mit Bombenanschlägen und Überfällen Angst vor Veränderungen bei einem Großteil der Bevölkerung zu erzeugen, hatte sich schon damals bewährt. Die Verurteilung von Sacco und Vanzetti für ein im Grunde alltägliches Verbrechen, das jahrelange sture Beharren auf die Todesstrafe, trotz weltweiter offizieller Bitten um Gnade (auch vom deutschen Reichstag), lässt sich nur mit anderen Motiven begründen – die Beschädigung einer missliebigen Bewegung, letztlich unabhängig davon, ob die beiden Männer schuld waren oder nicht.
Die Konstruktion von „Sacco e Vanzetti“
Angesichts dieser Zusammenhänge und der subjektiven Haltung des Regisseurs, liegt die Frage nah, ob es sich bei "Sacco e Vanzetti" um ein Werk ausschließlich für solidarisch Gesinnte handelt? – Dieser Eindruck ist zu verneinen. Trotz Montaldos eindeutiger Haltung schuf er ein komplexes, jeden Aspekt des Justizfalls betrachtendes Werk, dessen Nähe zu den Ereignissen seiner Entstehungszeit nur dem Wissen der damaligen Zeitzeugen entsprang – für das Verständnis des Films ist das eher nebensächlich. Diese Zeitlosigkeit unterstützt der Film mit einer klaren Struktur, die trotz aller Empathie, für die besonders die nie inflationär eingesetzte Musik Ennio Morricones und Joan Baez’ Stimme sorgen, immer einen transparenten, rational geprägten Blick auf die Ereignisse wirft.
Nach der Einleitung widmet sich der Film der Verhaftung von Nicola Sacco (Ricardo Cucciola) und Bartolomeus Vanzetti und dem sich daraus erst entwickelnden Kriminalfall. Das die Polizei bei ihrem Verhör kein Wort über den Mordverdacht verlauten ließ, war eine typische Vorgehensweise, die nichts mit diesem speziellen Fall zu tun hatte. Vanzetti, der zu diesem Zeitpunkt noch glaubte, es gehe nur um die Waffe, die bei ihm gefunden wurde, leugnete deshalb zuerst, ein Anarchist zu sein. Die Staatsanwaltschaft nutzte diese falsche Behauptung bei der Gerichtsverhandlung, um ihn als unglaubwürdig hinzustellen, auch wenn er seine Lüge (und seine Bewaffnung) später mit der Angst begründete, die der Fall des Kameraden aus dem 14.Stock bei ihm ausgelöst hatte. Bis den beiden Gefangenen bewusst wurde, dass sie wegen Mordes angeklagt werden sollten, verlief diese Phase in völliger Sachlichkeit. Montaldo verzichtete in dieser Konstellation sowohl auf polizeiliche Übergriffe, als auch auf eine emotionale Anteilnahme an den beiden Männern, wodurch diese Szenerie sehr zurückhaltend wirkt.
Das ändert sich mit der Gerichtsverhandlung, die im Anschluss daran fast die Hälfte des Films einnimmt. Durch den Auftritt von Moose (Milo O'Shea) als Verteidiger, aber auch des Staatsanwalts Katzmann (Cyril Cusack), wird das Geschehen zunehmend von teils lautstark geführten, sehr emotionalen Disputen überlagert – auch zum Missfallen von Nicola Sacco, der dem selbstherrlich auftretenden Moose misstraut. Tatsächlich war es Moose, der aus dem Mordfall ein politisches Spektakel machte und damit erst die weltweite Solidarität schürte. Bis heute ist es umstritten, ob er den Angeklagten damit einen Gefallen getan hat. Montaldo bleibt in der Darstellung der beiden lautstarken Männer objektiv, lässt auch Moose nicht wirklich sympathisch wirken, verdeutlicht aber zunehmend Katzmanns Rassismus.
Dieser, selbst Kind eines deutschen Einwanderers, aber schon in den USA geboren, zeigte keinerlei Gnade gegenüber den Italienern, deren Zeugnis für die Angeklagten er als irrelevant ablehnte, obwohl seine eigenen Zeugen unsicher wirkten. Die wenigen Fakten, wie die Kugel, mit der der Mord geschah, verschwinden unter einem Wust an Vorurteilen und nicht zu dem Fall gehörenden Vorwürfen, wie der, dass sie sich vor dem Wehrdienst gedrückt hätten. Immer wieder wird ihre Liebe zur USA angezweifelt und ihren Worten kein Gehör geschenkt, wenn etwa Sacco zu erklären versucht, das er ein Land lieben kann, auch wenn er dessen Staatsführung ablehnt. Montaldo, der sich mit dieser Darstellung sehr nah an den Fakten orientierte, kann vermitteln, das klassische Elemente einer Gerichtsverhandlung, wie die genaue Beurteilung der Beweislage oder die Annahme eines begründeten Zweifels, keine wirkliche Rolle spielten, sondern die damals im Land vorherrschenden Ängste unmittelbar vom Staatsanwalt und Richter in den Gerichtssaal transportiert wurden.
Bis zu diesem Zeitpunkt, nahezu nach zwei Dritteln der Handlung, bleibt der Film in der Charakterisierung seiner beiden Protagonisten sehr zurückhaltend. Deren ruhiges, unprätentiöses Wesen steht im starken Kontrast zu den aufgeregten Akteuren der Gerichtsverhandlung, womit Montaldo ihren aufrechten Charakter als Arbeiter betonen wollte. Er gibt ihnen die Gelegenheit, ihre Ansichten konsequent zu vertreten, aber ohne sie zu Helden hoch zu stilisieren. Nicola Sacco ist zunehmend verzweifelt, so dass er selbst die solidarischen Rufe der Unterstützer nicht mehr ertragen kann und nach einem Anfall in ein Krankenhaus gebracht werden muss. Vanzetti wirkt stabiler, schreibt viel und hat den Kampf noch nicht aufgegeben, aber es ist ein aussichtsloser Kampf, der ihn nur erniedrigt. Saccos in sich gekehrte Haltung, um nicht mehr auf die von den Mächtigen bestimmte Außenwelt zu reagieren, ist letztlich konsequenter – in dieser Trost spendenden Gestaltung erinnert der Film an „Lo straniero“ (Der Fremde, 1967) von Luchino Visconti, der darin Albert Camus’ These umsetzte, erst durch den inneren Entzug jeder Erwartungshaltung, wirkliche Freiheit zu finden.
Der Film verzahnt diese Phase bis zur Hinrichtung mit den Versuchen der Außenstehenden, das Urteil zu revidieren. Statt Moose übernimmt der seriöse Anwalt William Thompson (William Prince) die Verteidigung, dessen ruhig gesetzte Argumente aber nicht weniger an der Haltung des Richters abprallen. Als ein anderer Häftling, Celestino Madeiros, die tatsächlichen Täter der Morde benennt, nimmt der Film kurzzeitig den Charakter eines Detektivfilms an, der die Spur verfolgt und einige viel versprechende Indizien für die Richtigkeit dieser Aussage feststellt. Doch da es sich bei dem Zeugen um einen Puertoricaner handelte, der schon wegen eines anderen Delikts zum Tode verurteilt worden war, hatte seine Aussage für den Richter keine Relevanz. Real wurde der Mann am selben Tag wie Sacco und Vanzetti hingerichtet, aber dieses Detail lässt der Film weg.
Das Urteil
Auch Montaldo kann in seinem Film nicht beweisen, das Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti unschuldig im Sinne der Anklage waren, aber darum ging es weder der damaligen Gerichtsbarkeit, noch dem Film. Ob man die Indizien der Staatsanwaltschaft persönlich für ausreichend und die vielen Argumente und Zeugen der Verteidigung für unglaubwürdig hält, ist sekundär, angesichts eines Gerichtsverfahrens, das nie die korrekten Verfahrensregeln einhielt. Darauf fußt auch die Ehrenerklärung von Gouverneur Michael Dukakis im Jahr 1977, die in der unstrittigen Erkenntnis mündete, das „die Atmosphäre ihres Verfahrens und ihrer Revisionen von Vorurteilen gegen Ausländer und Feindlichkeit gegenüber unorthodoxen politischen Ansichten durchdrungen waren“.
In Montaldos Film geht es viel mehr um die generelle Betrachtung der Allmacht eines Staates, der unter dem Vorwand, Gefahren abzuwehren, die Rechte seiner Bürger rigoros einzuschränken und sogar kriminelle Handlungen vorzunehmen in der Lage ist – eine Situation, der sich Montaldo Anfang der 70er Jahre in Italien ausgesetzt sah, und die von ihrer Brisanz bis heute nichts eingebüsst hat. Natürlich ist „Sacco e Vanzetti“ auch als Anklage gegen solche diktatorisch anmutende Willkür zu verstehen, indem er vor den Mechanismen warnt, die nur funktionieren, wenn sich die Staatsführung einer schweigenden Mehrheit sicher sein kann. Doch auch wenn er unmittelbar nach dem Tod Vanzettis endet und in Joan Baez’ berühmtem, aufrüttelnden Song „Here’s to you“ mündet, bleibt am Ende das Gefühl von Hilflosigkeit, angesichts der Tatsache, das frei geäußerte Meinungen, gute Argumente oder einfach die Bitte um Gnade, an wenigen Menschen abprallten.
Die weitere Entwicklung Italiens nach 1971 stärkt noch diesen Eindruck – an der bleibenden Gültigkeit dieses grandiosen Werkes, verbunden mit der Erinnerung an Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti, ändert das nichts.(9,5/10)