Wie Perlen auf einer Schnur aufgereiht liegen die Fenster der Wohnungen dort, und hinter ihnen findet das Leben statt: Dort ist die einsame Frau, die Kontaktanzeigen aufgibt und Scharaden mit imaginären Männern aufführt. Da wurde gerade geheiratet, und das Liebespaar findet gar nicht mehr aus dem Bett. Hier werden Kinder erzogen. Drüben hat das kinderlose Ehepaar einen Hund als Ersatz, den es hegt und pflegt. Ein Musiker versucht zu Ruhm und Ehre zu kommen. Und genau gegenüber scheint ein Mann seine Ehefrau ermordet zu haben. Ein nicht ungefährliches Wissen für den Fotografen am Fenster …
Was? 65 Jahre ist DAS FENSTER ZUM HOF jetzt alt? Nicht zu glauben. Der Film erscheint mir so frisch und flott wie gerade erst abgedreht. Die Spannung ist immens, die Schauspieler sind eine Wucht, und die Inszenierung steckt vieles von dem, was in den 65 Jahren danach gedreht wurde, in die Tasche. Selbst bei der x-ten Sichtung ist DAS FENSTER ZUM HOF immer noch ein herausragender Film. Über den bereits sehr viel Kluges geschrieben wurde. Weswegen ich hier nur ein paar unzusammenhängende Gedanken zum Besten gebe. Dinge die mir einfallen, während ich den Beobachter beobachte …
James Stewart spielt L.B. Jeffries, einen Fotografen, der nach einem Umfall mit einem gebrochenen Bein an den Rollstuhl gefesselt ist, und der in diesem entsetzlichen heißen Sommer (das Thermometer zeigt über 35° an) seiner Leidenschaft für Beobachtungen freien Raum gibt. Böswillig könnte man das natürlich auch Voyeurismus nennen. Man beachte, wie Jeffries und Stella sich ablenken lassen von dem Drama der einsamen Frau, wo doch eigentlich die höchst gefährdete Lisa beobachtet werden sollte … Auf jeden Fall schaut Jeffries in die Fenster der anderen Leute, und was er da sieht untermauert seinen Widerwillen gegen die Ehe mit der wunderschönen Lisa. Als rasender Reporter reist Jeffries normalerweise nur mit einem Koffer in der Hand durch die ganze Welt, immer auf der Suche nach einer geeigneten Story, und Lisa, die eine gutgehende Modeagentur leitet, traut er diesen Lebensstil nicht zu. Also schaut er dem Dauersex der Neuvermählten zu (bildlich gesprochen natürlich), er sieht die Kindererziehung des älteren Ehepaars – und er sieht gegenüber das tödliche Ende einer Ehe. Alles keine wirklichen Argumente für das Heiraten …
Grace Kelly ist schön. Wunderschön. Engelsgleich. In ihrer ersten Szene beugt sich sie in einer Nahaufnahme zur Kamera und scheint dem Zuschauer einen Kuss geben zu wollen. Man(n) hält unweigerlich den Atem an – so viel Anmut und Liebreiz ist kaum zu fassen. Interessant, dass Grace Kelly im Rest des Films kaum Nahaufnahmen hat, sondern meistens in der Halbtotalen agiert. Als ob Hitchcock diesen ersten, göttinnengleichen, Eindruck nicht mindern wollte.
Wer aber eine Nahaufnahme hat ist Raymond Burr als Lars Thorwald, der voller Mordlust direkt auf James Stewart bzw. den Zuschauer los-, und dabei direkt in die Kamera hineingeht. Das Gegenstück zu Grace Kelly, die direkte Umkehrung der Liebe und der Zärtlichkeit welche sie ausstrahlt, ist der Bildschirm dieses Mal voll mit Hass, Gewalt, und Tod. Der Höhepunkt des Films ist allerdings, wenn Lisa mit dem Ehering wedelt, und damit aussagt: “Ich werde Dich kriegen, ich liebe Dich“, während im gleichen Moment direkt neben ihr stehend Thorwald Finsternis dräut und Jeffries anschaut: “Ich werde Dich kriegen, ich töte Dich.“ Ein wahrlich schockierender Augenblick, auch 65 Jahre nach der Entstehung des Films.
Eigentlich könnte so ziemlich jedes dieser Fenster einen eigenen Film bekommen. Könnte jede Geschichte, die hier nur angerissen wird, 90 Minuten mal besser und mal schlechter füllen. Das Musical: Die Karriere eines aufstrebenden Musikers. Das Drama: Die Einsamkeit einer ältlichen Frau. Die Screwball-Comedy: Die Probleme einer jungen Ehe, welche anscheinend nur aus Sex besteht. Die familientaugliche Komödie: Erziehungsprobleme einer kinderreichen Familie in einer viel zu kleinen und viel zu heißen Mietwohnung.
Doch die wahre Kunst Hitchcocks besteht darin, all diese kleinen Geschichten mit nur ganz wenigen Pinselstrichen zu skizzieren, sie gerade mal sichtbar zu machen, und dann in den Hintergrund dieses außergewöhnlichen und spannenden Films zu stecken, um diesem damit einen realistischen Background zu geben. Damit der Vordergrund umso packender wirkt.
Ein Film, der niemals altern wird, da bin ich mir sicher. Vordergründig ein hochspannender Thriller, und dabei so vollgepackt mit Ideen, Verweisen und Subplots, dass man ein halbes Leben mit der Dechiffrierung verbringen kann, ohne dass auch nur ein Quäntchen der Spannung verloren geht. Definitiv einer von Hitchcocks besten Filmen!