Starfotograf Jeffries hat es momentan nicht leicht: Seit Wochen sitzt er mit gebrochenem Bein bei sengender Hitze in seinem Rollstuhl, muß aus purer Langeweile aus dem Fenster stieren und seine Nachbarn bei ihren Tätigkeiten beobachten. Eines schönen Abends hört Jeffries plötzlich einen lauten weiblichen Schrei aus der gegenüberliegenden Wohnung eines Ehepaars. Weitere mysteriöse Ereignisse lassen ihn zur Vermutung kommen, daß Mr. Thorwald seine Gattin ermordet hat. Allein: Es fehlen Beweise...
Wer sich meine Bewertungen insbesondere der Hitchcock-Filme mal näher angesehen hat, wird festgestellt haben, daß ich ein riesengroßer Fan des Regisseurs bin (allein an fünf Filme von ihm habe ich die Höchstbewertung verteilt). Schon als Zehn- oder Elfjähriger hatte ich die Angewohnheit, meine Eltern darum zu bitten, jedes seiner Werke, das im Fernsehen lief, auf Video aufzunehmen, und obwohl ich den ein oder anderen Film inhaltlich nicht auf Anhieb komplett verstanden habe, konnte ich mir diese - zumindest die meisten - immer und immer wieder anschauen. „Das Fenster zum Hof“ ist ein solches Exemplar, das für mich noch immer das Nonplusultra eines rundum perfekten Thrillers bleibt - subjektiv wie objektiv betrachtet. An diesem Film müssen sich in Sachen Spannungsaufbau viele andere Genrevertreter von mir messen lassen.
Gründe dafür liegen auf der Hand: Jeffries (James Stewart) ist hier nicht nur Held und Hauptfigur, nein, der Zuschauer befindet sich zusätzlich über zwei Stunden mit ihm in der gleichen Situation. Jeffries ist an den Rollstuhl gefesselt, wir an den Fernsehsessel. Wir haben das gleiche eingeschränkte Sichtfeld, sind genauso hilflos wie er, wenn sich vor seinen Augen aufregende Dinge abspielen, deren Ausgang er nicht beeinflussen kann. Wie er verfluchen wir seinen Freund Doyle (Wendell Corey), wenn er der Mordtheorie zuerst keinen Glauben schenkt und dann auch noch mit Argumenten aufwartet, die (scheinbar) belegen, daß Thorwald (Raymond Burr) kein Mörder ist, obwohl wir doch sehnlichst gehofft haben, Jeffries möge recht haben und könne seinen Nachbarn überführen. Wie er atmen wir dann auf, als wir nur wenig später erfahren, daß der Detektiv sich geirrt hat. Selten zuvor und danach konnte und kann man sich mit einer Figur so sehr identifizieren wie mit Jeffries in „Das Fenster zum Hof“. Zumal die Kamera grundsätzlich in seiner Wohnung bleibt - von einer kurzen Ausnahme in der Mitte des Films (beim Tod des Hündchens werden alle Reaktionen der Nachbarn auf das schreiende Frauchen gezeigt) und der Schlußpassage (Jeffries droht, aus dem Fenster zu fallen - hier wird kurzzeitig die Subjektivität aufgegeben) abgesehen.
Allein die Entwicklung der Story ist traumhaft: Völlig harmlos beginnt das Geschehen, was auch unbedingt notwendig ist. Von einem Mord erst nicht die geringste Spur. Stattdessen läßt sich Hitchcock sehr viel Zeit, uns nicht nur die Hauptfigur näherzubringen, sondern auch Lisa (die wunderschöne Grace Kelly, die, wenn überhaupt, nur in „Über den Dächern von Nizza“ besser ausgesehen hat), Jeffries‘ Freundin, die ihn unbedingt heiraten will, aber völlig gegensätzliche Ansichten vom Leben vertritt, Stella (Thelma Ritter), die resolute Krankenschwester, die täglich vorbeischaut und Moralpredigten hält („Wir sind doch ein Volk von Spannern geworden“, so ihre treffenden Worte über die Freizeitbeschäftigung der Hauptfigur) - und nicht zu vergessen, die Nachbarn, wie die Tänzerin „Miss Torso“, die von Männern umgarnt wird und morgens immer halbnackten Frühsport in ihrer Wohnung aufführt. Als ihr Gegenpol die einsame „Miss Lonely Hearts“, die sich nichts sehnlicher wünscht als einen Mann und bei ihren Versuchen ständig scheitert - ober aber die frisch Vermählten, die sich den ganzen lieben Tag nur im Bett vergnügen. Auch von dem streitsüchtigen Ehepaar Thorwald erhalten wir schnell einen Überblick: Sie ist schwer krank, liegt den ganzen Tag im Bett, nörgelt, er ist Vertreter und versucht seinem tristen Alltag zu entgehen, indem er sich nebenbei eine Geliebte hält. Noch deutet nichts auf ein Verbrechen hin.
Erst nach einer halben Stunde gibt sich der Film als Spannungsgeschichte zu erkennen. Ob sich überhaupt ein Mordfall ereignet hat, ist zu dem Zeitpunkt noch gar nicht sicher. Zwar verläßt der Vertreter in einer Nacht mehrmals die Wohnung, säubert am nächsten Morgen eine Säge, was aber noch gar nichts bedeutet. Doyle hat schon recht, als er zu Jeffries sagt: „Es ist nun einmal eine private Welt, in die du da hineinblickst.“ Theoretisch könnte es immer noch sein, daß die Phantasie Jeffries (und uns) einen Streich gespielt hat. Während sich in Robert Zemeckis‘ gelungenem „Schatten der Wahrheit“ eine ähnliche Geschichte tatsächlich überraschend als MacGuffin, als ein Hirngespinst von Michelle Pfeiffer entpuppt, hat die Hauptperson in „Das Fenster zum Hof“ recht.
Bald kann der Privatschnüffler Lisa und Stella auf seine Seite ziehen, und sobald sie die Gewißheit haben, daß sich gegenüber ein Mord ereignete, reiht Hitchcock in gewohnter Manier eine atemberaubende Spannungsszene an die andere. Die bisher passiven Zuschauer, die sich bis dato noch nicht in ernstlicher Gefahr befunden haben, entschließen sich nämlich dazu, selbst aktiv einzugreifen, um den Killer zu überführen. Und eben weil die Identifikation so groß ist, die Figuren allesamt so sympathisch sind, ist höchstes Mitfiebern angesagt - auch noch beim wiederholten Male, auch noch, obwohl man den Ausgang schon kennt.
Bei Hitchcock reichen mitunter schon einfachste Mittel, um eine maximale Wirkung zu erzielen. Beispiel gefällig? Gerne. Lisa ist es gerade gelungen, ein belastendes Beweisstück an sich zu nehmen, wurde dafür von dem Mörder allerdings auf frischer Tat ertappt. Jeffries beobachtet alles gebannt mit seinem Teleobjektiv, hat Thorwald im Visier. Jetzt scheint alles gut zu werden, denn die Polizei trifft ein, doch plötzlich und unerwartet dreht der Mörder, durch eine verdächtige Geste Lisas aufmerksam geworden, seinen Kopf und starrt dem ungebetenen Spanner mit eiskaltem Blick direkt ins Objektiv. Jeffries erschrickt sich - und weil auch der Betrachter in diesem Augenblick exakt den Blickwinkel von Jeffries eingenommen hat, erschrickt auch er. Hier ist es ein einfacher Blick, der starkes Herzklopfen verursacht - zumindest bei mir wirkt’s noch beim x-ten Mal.
Im unmittelbar darauffolgenden unausweichlichen Finale beweist Hitchcock dann noch einmal all seine Stärken auf dem Spannungssektor. Der Showdown zwischen Gut und Böse, der an sich recht kurz ist, doch die Vorbereitung darauf dürfte bereits häßliche abgeknabberte Fingernägel beim Zuschauer zur Folge haben: In einer quälenden Langsamkeit stapft Thorwald die Treppen hoch, während Jeffries in seinem Rollstuhl in Todesängsten nach einem Ausweg aus seiner Lage sucht. Wenn Thorwald dann die Tür öffnet und nur ein Lichtschein auf einen Teil von seinem Gesicht fällt, kriecht sie endgültig wieder aus den Poren, die Gänsehaut. Eine, wenn nicht sogar die Szene aus dem Thriller-Lehrbuch.
Ich könnte noch so viel mehr auf den Inhalt eingehen, denn jede Sekunde dieses Films wäre es wert, in aller Ausführlichkeit geschildert zu werden, allerdings erwähne ich - sonst würde diese Kritik den Rahmen sprengen - nur noch die legendäre Exposition, in der Hitchcock ohne ein gesprochenes Wort, mit einem Kameraschwenk, ohne einen einzigen Schnitt, innerhalb einer einzigen Minute bereits alles Relevante über die Hauptfigur verrät, wo er wohnt, welchem Beruf er nachgeht, wie er sich das Bein brach usw.
Welch ein Perfektionist Hitchcock ist - in Detailfragen, versteht sich, um Fehler in der Logik hat er sich nie einen Kopf gemacht und wer suchet, der findet auch hier zwei, drei größere Ungereimtheiten -, zeigt sich besonders gut in seiner im Interview mit Francois Truffaut geäußerten Unzufriedenheit mit der Musik von Franz Waxman. „Das Fenster zum Hof“ kommt bis auf im Vorspann (eine seltsam dissonant klingende Melodie) gänzlich ohne musikalische Begleitung aus - lediglich der Musiker im Appartement gegenüber klimpert hin und wieder auf seinem Klavier und versucht, ein Stück auf die Beine zu stellen. Hitchcock wollte, daß sich die Entwicklung der Melodie parallel zur Handlung immer weiter entwickelt, bis das Stück in der Schlußsequenz vollständig orchestriert durch den Hof schallt - und ärgerte sich wahnsinnig darüber, daß diese Idee nicht so recht im Endschnitt zur Geltung kam.
Wie es sich für ein Meisterwerk gehört, stimmen auch die schauspielerischen Leistungen. James Stewart ist sowieso einer meiner Lieblingsschauspieler der früheren Jahre, so verleiht er dem Starfotografen, der aus Langeweile zum Hobby-Voyeur wird, ebenso genügend Glanz, um keinen anderen Darsteller für die Rolle denkbar zu machen. Grace Kelly ist, wie immer, zauberhaft und gibt ihrer Figur Lisa allein durch ihr Aussehen eine bahnbrechende Präsenz. Einfach zum Knuddeln und eines der Highlights des Films: Thelma Ritter, die in „Das Fenster zum Hof“ als Krankenschwester Stella wohl die Paraderolle ihres Lebens abgestaubt hat. Bevor er jahrelang der beliebte TV-Anwalt Perry Mason war, spielte Raymond Burr hier einen Schurken. Den nimmt man ihm jederzeit, auch wegen seiner kräftigen Statur, ab. Der Vollständigkeit halber sei noch Wendell Corey erwähnt, der seine Sache selbstverständlich außerordentlich gut macht.
Viele behaupten ja, ihnen sei noch nicht der Gipfel filmischen Schaffens über den Weg gelaufen, sie würden noch immer darauf warten. Ich behaupte: Ich bin ihm bereits begegnet. Ich halte „Das Fenster zum Hof“ schlichtweg für nicht mehr steigerungsfähig (vergleichbar höchstens noch „Der unsichtbare Dritte“ und „Charade“), Hitchcock hat meines Erachtens in den knapp zwei Stunden aus jedem Fitzelchen das Maximale herausgeholt. Ein uneingeschränktes Meisterwerk, das stilprägend war, Maßstäbe setzte. Ein Meisterwerk, das spannender nicht geht. (Da fällt mir auf: Ich habe noch gar nicht den allgegenwärtigen Humor erwähnt. Pfui! Schande über mich!) Ein Meisterwerk, das auch nach über 50 Jahren nichts, aber auch gar nichts von seiner Faszination eingebüßt hat und auch noch weitere 50 Jahre schadlos überstehen wird. Ganz gewiß muß man die Werke von Hitchcock nicht unbedingt mögen, kein Interesse dafür aufbringen (auch wenn man es eigentlich sollte). Aber „Das Fenster zum Hof“ ist nun wirklich Pflichtprogramm für jeden halbwegs interessierten Filmegucker - und, tut mir leid, wer ihn nicht mag, der hat einfach einen unsagbar schlechten Geschmack. Ist leider so. :-) 10/10 (weil mehr nicht geht).