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Zwischen „Blanche“ und seinem vielleicht berüchtigtsten Film „La Bête“ feierte noch 1973 der Episodenfilm „Unmoralische Geschichten“, der mutmaßlich populärste Film des polnischen Erotikfilmers Walerian Borowczyk, seine Premiere auf dem London Film Festival. Es handelt sich um eine französische Produktion, die in vier Episoden vier verschiedene Epochen umfasst. Eigentlich sollte auch „La Bête“ Bestandteil dieser Anthologie sein, entfiel jedoch und wurde auf Spielfilmlänge ausgedehnt.

„So wunderbar die Liebe ist, gefällt sie noch mehr durch die Arten, wie sie sich zu erkennen gibt.“

„La Mareé“ basiert auf der gleichnamigen Kurzgeschichte André Pieyre de Mandiargues‘ und wurde in der Gegenwart, also 1974, angesiedelt. Cousin (Fabrice Luchini, „Claires Knie“) und Cousine (Lise Danvers, „Die abgetrennte Hand“) befinden sich an einem abgelegenen Küstenstück, wo der Cousin seine jüngere, naive Cousine zum Fellatio überredet. Während die Kamera mit sehr ästhetischen Mundzooms und schönen Aufnahmen des tosenden Meers arbeitet, wünscht man sich, er hätte den Mund genauso voll wie seine Cousine, damit er sein neunmalkluges Gequatsche einstellt. So aber sinniert er weiter über die Flut, die zur Metapher für Ejakulation wird. Ohne Ton ein sinnlicher Kurzfilm, mit Ton wird er zur etwas fragwürdigen Groteske.

„Der Mensch wird gut, wenn er mit denen spricht, die gut sind.“

In der 1890 spielenden Episode „Thérèse Philosophe“ zermasturbiert eine junge Frau (Charlotte Alexandra, „Frühreife Verführerinnen“) eine zweckentfremdete Gurke. Sie wurde ins Zimmer gesperrt und fand dort ein Buch erotischen Inhalts, den illustrierten Roman „Thérèse Philosophe“, den sie parallel zu ihrem Gebetsbuch goutiert. Wieder an der frischen Luft, wird sie von einem Tippelbruder vergewaltigt. Dies scheint sie jedoch nicht weiter zu tangieren, zumindest lässt Borowczyk offen, wie sie die Situation tatsächlich wahrnimmt. Im Prinzip thematisiert diese Episode sowohl die Kraft erotischer Literatur bzw. Kunst generell als auch die Unwirksamkeit religiöser Moraldoktrin in Bezug auf Sexualität, denn das Mädchen kam schnurstracks aus der Kirche und fand schnell Gefallen an der Verquickung von religiöser und erotischer Lektüre bei gleichzeitiger körperlicher Aktivität. Heruntergebrochen aufs Visuelle handelt es sich um eine leidenschaftlich und anregend gespielte Gemüsemasturbation mit seltsam anmutender Pointe – nicht mehr, aber auch nicht weniger.

„Keine Angst, die Gräfin Bathory sucht für ihr Schloss nach ehrlichen und bescheidenen jungen Mädchen, und sie bezahlt sie, nährt und beherbergt sie besser als der König selbst...“

„Erzsébet Báthory“ spielt im Jahre 1610 und widmet sich, wie der Name bereits verrät, der „Blutgräfin“ Bathory (Paloma Picasso). Diese besucht ein Dorf, um sich dort jungfräuliche Mädchen auszuwählen, die sie mit auf ihr Schloss nimmt. Dort findet eine große Nackedei-Party statt, bevor die Mädchen umgebracht werden, damit Bathory in ihrem Blut baden kann. Stets an ihrer Seite ist ihre androgyne Assistentin Istvan (Pascale Christophe, „Unmoralische Engel“), die sie später verraten wird. Diese Episode steht in ihrer opulenten Ausstattung und ihrem wahren Menschenauflauf im Kontrast zu den beiden vorausgegangenen. Eine derartige Ansammlung nackten jungen Fleisches bekommt man selten zu Gesicht und die Ausstrahlung Picassos in ihrer Rolle ist enorm. Der Horrorgehalt der Geschichte ist zwar die Pointe, grafisch ausgekostet wird jedoch der Erotikfaktor der noch lebendigen Jungfrauen. Die Dialogarmut trotz der Vielzahl an Menschen tut der Episode gut und trägt zur mystischen Aura Bathorys bei, vermittelt aber auch ein Gefühl, eine Atmosphäre von Autorität, Dominanz und Strenge, in der jedes unnötige Wort eines zu viel wäre.

„Nun zu dir, du verhurte Kirche...“

Den skandalösen Höhepunkt hob sich Borowczyk jedoch bis zum Schluss auf: Für „Lucrezia Borgia“ geht er in der Zeit bis ins Jahr 1498 zurück. Die gleichnamige Fürstin (Florence Bellamy, „Zwei scheinheilige Brüder“) stattet zusammen mit ihrem Ehemann Giovanni Sforza ihrem Vater, Papst Alexander VI. (Mario Ruspoli, „Ring frei für die Liebe“) und ihrem Bruder, Erzbischof Cesare (Fabrizio Ruspoli), einen Besuch ab. Während sich der Papst sexuell an seiner Tochter vergeht und Sforza daran nichts findet, wettert Bußprediger Savonarola (Philippe Desboeuf, „Das Urteil“) von der Kanzel gegen die Verkommenheit des Klerus und des Adels. Borowczyk schnitt beide Szenen ausschnittweise abwechselnd gegeneinander und stellt Inzest in höchsten kirchlichen Kreisen als selbstverständliche Normalität und dar, gegen die es sich auch schlecht anpredigen lässt. Das ist natürlich starker, höchst provokanter Tobak, ein verdienter Schlag ins Gesicht des Vatikans. Dass sich der eigentliche Erotikfaktor da unterordnen muss, liegt in der Natur der Sache.

Texttafeln führen in jede Episode ein, die alle vier echte Hingucker sind, historisch allem Anschein nach so realistisch wie möglich ausgestattet, vom Interieur über die Kostüme bis hin zur Musik (barocke Klänge, sakrale Chorgesänge etc.). Borowczyk bewegt sich mit seinem „Unmoralischen Geschichten“ irgendwo zwischen kunstvollem Anspruch und garstiger Exploitation, zwischen ausgeprägtem Sinn für Ästhetik, für das Schöne und Wut auf Moralismus, Zensur und Autorität sowie Lust an der Provokation. Die Sorgfalt, mit der er dabei zu Werke geht, ist selten in diesem Metier und führt dazu, dass seine „Unmoralischen Geschichten“ eine sehr individuelle Anziehungskraft entwickeln und sowohl als kurzweilige, abwechslungsreiche Episoden als auch als Anthologie über Sexualität von der naiven Unschuld über ihre Unterdrückung, ihren Missbrauch bis hin zum Tod funktionieren – während zeitgleich in Deutschland „Schulmädchen-“, „Schlüsselloch-“ und „Frühreifen-Report“ in die Kinos lockten…

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