„Ungefähr in einer Stunde wird es hell, dann kann ich endlich schlafen!“
Das Horrordrama „Die Stunde des Wolfs“ aus dem Jahre 1968 bildet den Auftakt der Fårö-Trilogie des schwedischen Autorenfilmers Ingmar Bergman („Die Jungfrauenquelle“). All diesen Filmen ist gemein, dass sie auf jenem schwedischen Eiland gedreht wurden, wenngleich die Handlung in diesem Falle auf deutschem Hoheitsgebiet angesiedelt wurde.
„Die Alten nennen sie die Stunde des Wolfes. In dieser Stunde sterben die meisten... und die meisten Kinder werden geboren.“
Der bildende Künstler Johan Borg (Max von Sydow, „Wilde Erdbeeren“) befindet sich inmitten einer kreativen Flaute, die er zu überwinden sucht, indem er sich mit seiner Frau Alma (Liv Ullmann, „Persona“) auf der abgeschiedenen ostfriesischen Insel Baltrum den rauen Nordseewind um die Nase wehen lässt. Doch Nordsee ist Mordsee und Johan verschwindet eines Tages spurlos. Alma fand bereits zuvor sein Tagebuch und las darin das Psychogramm eines Mannes, der von Erinnerungen an seine ehemalige Geliebte Veronica Vogler (Ingrid Thulin, „Das Schweigen“), Wahnvorstellungen und Halluzination geplagt wurde und mehr und mehr den Verstand verlor. Schon früh wurde seine sich anbahnende psychische Erkrankung einem Jungen (Mikael Rundquist) zum Verhängnis, den er aus Furcht erschlug und ins Meer warf – sofern sich das nicht auch bereits lediglich in seiner Fantasie abspielte. Oder sind die Monster, die ihn verfolgten, echt und eine dunkle Macht war hinter ihm her?
Unter Bergmans Regie sieht die Verfilmung dieser eigentlich vielversprechend klingenden Prämisse dann in etwa wie folgt aus (Achtung, kompletter Spoiler): Der Schwarzweißfilm eröffnet mit Texttafeln, die von Johans Verschwinden berichten, um anschließend formal als eine Mockumentary zu beginnen: Ein (für die Zuschauerinnen und Zuschauer nicht sichtbares) Kamerateam beginnt ein „Interview“ mit Alma, Regieanweisungen sind auf der Tonspur zu hören. Ihre Antworten werden jedoch nach einem radikalen Stilbruch in Form visualisierter Rückblenden im klassischen Spielfilmgewand aus ihrer Perspektive erzählt. In ihnen weist eine alte Frau Alma auf Johans Tagebuch hin, das Alma daraufhin findet und darin zu lesen beginnt. Daraufhin etabliert Bergman eine weitere Zeitebene, sprich: Rückblenden in der Rückblende, nun aus Johans Perspektive. Dieser trifft Barons von Merkens (Erland Josephson, „Das Gesicht“), den Besitzer der Insel, sowie eine junge Frau, die ihm einen blauen Fleck auf ihrer nackten Brust zeigt und ihn zu kennen scheint. Mit ihr scheint er eine Affäre zu haben. Ferner begegnet er Heerbrand (Ulf Johansson, „Das siebente Siegel“), der ihn vollquatscht und offenbar mit seinem Werk vertraut ist. Ihn schlägt Johan nieder.
Am Esstisch geht Alma gemeinsam mit Johan den Finanzhaushalt durch. Sie Besuchen eine Feier, auf der sie sich sichtlich unwohl fühlen, sowie eine Opernaufführung. Veronica Vogler, mit der er fünf Jahre lang eine Affäre hatte, plaudert auf die beiden ein. Alma fürchtet, dass man sie und Johan auseinanderbringen möchte und gesteht ihm verzweifelt, dass sie sein Tagebuch gelesen hat. Nach 45 Minuten platziert Bergman unvermittelt eine erneute Einblendung des Filmtitels. Besten Dank – nicht auszudenken, der Film hätte eine gewisse Kohärenz entwickelt und so etwas wie Stimmung oder Atmosphäre entfalten können… In der zweiten Filmhälfte erzählt Johan Alma von Kindheitsängsten, -trauma und Misshandlung und gesteht, was am Tage eines vermeintlichen Schlangenbisses wirklich geschehen ist. Zeit für eine dritte Zeitebene, die Rückblende in der Rückblende in der Rückblende! Es war Sommer, Johan unternahm einen Angelausflug und erschlug einen Jungen, weil er sich vor ihm fürchtete. Diese Ebene geht mit einem weiteren Stilwechsel einher: Sie hat keinen szenenimmanenten Ton, dafür erklingt irre dramatische Orchestermusik vom Soundtrack.
Johan wird nun auch seiner Frau gegenüber unwirsch, scheucht sie davon und schießt sogar nach ihr. Eine seltsame Frau bittet ihn, ihre Füße zu liebkosen. Nun wird’s grafisch gruselig: Voglers Mann ist eifersüchtig und geht im wahrsten Sinne des Wortes die Wände hoch. Jemandes Gesicht entpuppt sich als Maske, die er sich gruselig vom Gesicht zieht. Das sind starke Einzelszenen, die auch in „herkömmlichen“ Horrorfilmen eine gute Figur machen würden. Jemand kleidet Johan für ein neues Liebesabenteuer mit Veronica ein, woraufhin er sie wie eine Leiche nackt aufgebahrt vorfindet. Er streichelt sie, sie lebt und lacht sich kaputt, schmust zugleich mit ihm. Andere schauen zu und lachen ebenfalls. Dabei ist die Szene alles andere als lustig – Bergman zeigt durchaus eindrucksvoll, wie furchterregend Gelächter sein kann. Der Film ist kurz davor, in die Bahn zu finden, da zieht Bergman die Notbremse: Während Johan philosophiert, stellt Bergman den Ton auf stumm und zeigt einen Auszug aus der dritten Rückblendenebene, den Totschlag des Jungen, erneut.
Schließlich endet die ausgedehnte Rückblende, Alma befindet sich wieder in der Interview-Situation. Eine weitere Rückblende zeigt, wie sie Johan irgendwo im Freien herumliegend fand und, als eine Art Finale oder Pointe, den grausigen Gestalten, die ihren Mann verfolgten, ebenfalls begegnet. Dies wirft die Frage auf, ob es sich tatsächlich lediglich um Wahnvorstellungen Johans handelte oder diese Figuren und damit der Horror real sind – bzw. ob mittlerweile auch Alma derart durch den Nordseewind ist, dass nun auch sie zu halluzinieren beginnt. Diese Frage stellt Alma sogar ganz konkret in die Kamera: „Ist es nicht so, dass eine Frau, die lange mit einem Mann zusammenlebt, im Laufe der Jahre diesem Mann ähnlich wird? Wenn sie ihn liebt, beginnt sie, zu denken wie ihr Mann, zu sehen wie er. Es heißt, dass sich dadurch ein Mensch verändert.“
„Die Stunde des Wolfs“ hätte eine Art schwedisches Autoren-„Shining“ werden bzw. jenem King-Werk und dessen Verfilmungen vorweggreifen können und steckt mit seinen E.T.A.-Hoffmann-Zitaten zumindest mit einem Bein knietief in der deutschen Romantik. Doch zu ohnehin spröden Schwarzweißbildern gesellen sich regelrecht abweisende Brüche und eine zähe, sperrige, kaum Dramaturgie zu nennende Narration, die man sich „erarbeiten“ muss. Dadurch wirkt der Film, als habe Bergman ihn absichtlich zerstört und damit entweder sich selbst oder sein Publikum strafen wollen – für was auch immer. Somit ist „Die Stunde des Wolfs“ ein alptraumhaft-surreales Horror-Psychodrama, das gewissermaßen die Form seiner Inhalte übernimmt – und mir trotz der beschrieben, im positiven Sinne verstörenden Einzelszenen zu experimentell, unausgegoren und unentschlossen.