Review

Bergmans "Vargtimmen" erweist sich trotz - oder gerade wegen - verschiedener interessanter Ansätze und neuer Motive in Bergmans Schaffen als ein Film der verschenkten Möglichkeiten. So lobenswert ehrgeizig die selbstgesteckten Ziele gewesen sein müssen, so "unzulänglich" (zumindest im Verhältnis zu anderen Bergmans aus dieser Phase) bleibt doch letztlich die Umsetzung; auch wenn noch genug Aspekte dafür sorgen, dass der Film deutlich über dem Durchschnitt anzusiedeln ist.

Die Geschichte des Films ist [Achtung: Spoiler!] zunächst so eng mit Motiven des Horrorfilms verknüpft, wie es bei kaum einem anderen Bergman der Fall ist: Maler Johan Borg (Max von Sydow) und seine Gattin Alma (Liv Ullmann) leben seit Jahren abgeschieden auf einer Insel. (Es handelt sich hierbei um Färö, weshalb die ebenfalls mit Sydow und Ullmann besetzten Filme "Skammen" (1968) und "Passion" (1969) mit "Vargtimmen" die sogenannte Färö-Trilogie bilden.) Johan wird - wenn man seinem mit extrem kontrastreichen Rückblenden bebilderten Geständnis glauben darf, welches er Alma im Verlauf des Films machen wird - von der Erinnerung an die Ermordung eines kleinen Jungen geplagt, den er damals, nachdem dieser ihn durch seine Neugierde in einen Zustand zwischen Furcht und Zorn versetzt hatte, in einem plötzlichen Zornesausbruch brutal erschlagen und dann im Meer versenkt hat. Jedoch ist diese Missetat weniger Auslöser seiner geistigen Umnachtung, die sich immer stärker bemerkbar machen wird, sondern bereits ein erster Kontrollverlust, ein erstes Symptom seiner Erkrankung.
Alma erfährt jedoch (wie das Publikum) erstmals vom Zustand ihres Mannes, als Johan ihr (dem Publikum hingegen nicht!) einige seiner unveröffentlichten Malereien präsentiert, welche allerlei bizarre Mischwesen aus Mensch und Tier und sonstige Monstren darstellen und zudem eigene uneingestandene homoerotische Neigungen beherbergen. Das Publikum erlebt ein weiteres Anzeichen einer gestörten Psyche, als Johan sich beim Malen von einem aufdringlichen Kurator in die Ecke gedrängt fühlt und ihn in einem Aggressionsanfall niederschlägt. Seine diffusen Ängste finden schließlich konkreten Ausdruck, als er mit Alma in das Anwesen des Barons von Merkens eingeladen wird. In den zahlreichen Gästen, die offenbar von einer lange zurückliegenden Affäre Johans mit einer gewissen Veronica Vogler (Ingrid Thulin) wissen und ihm auch ansonsten durch allerlei Aufdringlichkeiten zusetzen, erkennt Johan bald die Nachtmahre aus seinen Gemälden wieder.
Von nun an verfällt er mehr und mehr seinen Wahnideen - das wäre die realistische Lesart des Textes! - oder er wird von nun an tatsächlich von übernatürlichen Wesen bedrängt - das wäre die wunderbare Lesart. Am Ende schließlich schießt er - völlig von Sinnen - Alma nieder und glaubt sie tot (tatsächlich überlebt sie!), irrt auf der Suche nach Veronica Vogler durch ein Pandämonium grotesker Gestalten und wird schließlich von seinen nicht menschlichen Häschern seines Blutes und Lebens beraubt... bzw. treibt ihn sein Nachtmahr ins Verderben im sumpfigen Gelände. Alma, die Zeugin seines Todes wird, sieht zwar ebenfalls die monströs überzeichneten Gäste des Barons ihren Gatten morden - allerdings relativiert sie gleich zweimal im Film die Objektivität ihrer Aussage mit dem Hinweis, dass sich zwei nahestehende Menschen im Laufe der Zeit immer ähnlicher werden und dass sie daher womöglich die Wahnvorstellungen ihres Gatten übernommen haben könnte.

Tatsächlich lassen sich beide Lesarten gleichberechtigt vertreten: Man kann den Film durchaus als Werk über den Wahn eines Erkrankten lesen, dem nach und nach auch die eigene Frau zu erliegen droht; ebenso kann man ihn aber auch als einen Horrorfilm betrachten, in welchem eine Gruppe übernatürlicher Wesen einen hochempfindlichen Künstler verfolgt und buchstäblich leersaugt. Nun hat Bergman das Pech gehabt - und durch krude und möglichst schockierend-beklemmende autobiografische Schriften ist das Ganze auch in einem gewissen Grade selbstverschuldet -, auf seine düsteren Dramen reduziert zu werden: und ebenso wie kaum jemals die komödiantischen Sequenzen eines "Det sjunde inseglet" (1957) hervorgekehrt werden, wird auch kaum jemals "Vargtimmen" als Horrorfilm verstanden[1], gleichwohl Bergman für solch ein Verständnis genügend Hinweise liefert: Denn "Vargtimmen" bezeichnet die (den dt. Titel liefernde) Stunde des Wolfes - jene Stunde, in der die meisten Menschen sterben und die meisten Kinder geboren werden würden. (Und genau in dieser unheilvollen Stunde findet Johan sein Ende. Und bereits auf der Feier bei Baron von Merkens und seinen Freunden ritzt ihm ein weiblicher Gast die Wange blutig... Eine erste Attacke oder nur ein folgenschwerer Zufall?)
Vertreten lassen sich eben letztlich beide Positionen und man tut daher gut daran, den Film weder auf einer realistischen Ebene, noch auf einer wunderbaren Ebene fest verankern zu wollen, sondern ihn stattdessen in das Gebiet phantastischer Texte nach streng minimalistischer Auslegung einzuordnen - also zu den Texten zu zählen, in denen eine Unsicherheit bestehen bleibt, welche eine hieb- und stichfeste Einordnung in das Realistische oder Wunderbare verhindert. Dafür spricht auch, dass Bergmans Erzählstruktur nicht nur an den populären Stoffen der phantastischen Literatur (nach minimalistischem Gesichtspunkt) anknüpft, sondern dass Bergman sich auch bei einem der bekanntesten Autoren auf diesem Gebiet bedient und überdeutliche Zitate einfließen lässt: Von den drei Gästen von Merkens, welche die Namen dreier Figuren aus dem Werk E. T. A. Hoffmanns tragen (nämlich: Kreisler, Heerbrand und Archivarius Lindhorst, drei Gestalten aus dem "goldenen Topf", in dem generell kaum jemand derjenige ist, der er zu sein scheint!) wird nämlich bei Letzterem (Georg Rydeberg, der zudem als Lindhorst in Mimik, Frisur und Physiognomie unwahrscheinliche Ähnlichkeit mit Bela Lugosi besitzt!) das literarische Prinzip zur Erzielung von Unsicherheit beim Leser filmisch kongenial umgesetzt: Mehrfach wird dort nämlich die Verwandlung des Archivarius Lindhorst in einen Vogel angedeutet, wobei diese Andeutungen jedoch bewusst vage gehalten werden: "Schon war er in der Nähe des Koselschen Gartens, da setzte sich der Wind in den weiten Überrock und trieb die Schöße auseinander, daß sie wie ein Paar große Flügel in den Lüften flatterten und es dem Studenten Anselmus, der verwundrungsvoll dem Archivarius nachsah, vorkam, als breite ein großer Vogel die Fittige aus zum raschen Fluge. - Wie der Student nun so in die Dämmerung hineinstarrte, da erhob sich mit krächzendem Geschrei ein weißgrauer Geier hoch in die Lüfte"[2].
Solcherlei Anschein-Erweckungen, die im "goldenen Topf" letztlich aber stärker aufgeklärt werden als in anderen Texten Hoffmanns, inszeniert auch Bergman - und mitunter betritt Lindhorst unter Vogelgeflatter die Szene und bevor sich sein Körper in das Bild schiebt, flattern kurz schwarze Flügel an ebendieser Stelle;[3] eine Verwandlung wird dadurch als Assoziation in den Raum geworfen, jedoch nicht ausdrücklich bestätigt - aber eben auch nicht ausdrücklich verneint; auch wenn später ganze Vogelschwärme um Lindhorst kreisen und eine natürliche Quelle der schwarzen Flügel vermuten lassen werden. Lindhorst entspricht offenbar der Figur, die Johan in seinem Gemälde als "Vogelmann" festgehalten hat.

In solch gelungenen filmischen Übersetzungen literarischer Methoden zur Erzielung von Unsicherheit erreicht Bergman eine beachtliche Qualität (zumal Tzvetan Todorov 1968 seine wirkmächtige Definition der Phantastik und die Funktionsweise ihrer Strukturen noch nicht geliefert bzw. untersucht hat, weshalb nur Primärtexte als Vorbilder dienen konnten und die Herausarbeitung bestimmter Elemente und deren Übertragung in ein neues Medium also ein Eigenverdienst Bergmans war). Sehr stimmig wirkt vor diesem Hintergrund der Hoffmann-Anspielungen auch die Verwendung visueller Effekte, die überdeutlich dem expressionistischen deutschen Stummfilm entlehnt sind. Schaut man sich nämlich zeitgenössische Kritiken zu eben jenen Vorbildern an (etwa zu "Das Cabinet des Dr. Caligari" (1920) oder zu "Nosferatu - Eine Symphonie des Grauens" (1922)), so fällt der Name Hoffmann erstaunlich oft. Tatsächlich wurde derartig häufig von Hoffmann, vom "Geiste E. T. A. Hoffmanns"[4] oder von "hoffmannschen/hoffmannesken Gestalten"[5] gesprochen, dass viele der späteren Filme, die nicht zum expressionistischen Stummfilm gehörten, Hoffmann genau mit dessen Mitteln in Szene setzten. (Etwa Paul Berrys "The Sandman" (1992) oder David Teagues "The Sandman" (2001).)

Weist Bergmans Spiel mit Zitaten in diesen Punkten noch eine ziemliche Kontinuität auf, wirkt "Vargtimmen" jedoch als Gesamtwerk etwas ziellos und zersplittert. Denn durchzogen ist der Film zudem von selbstreflexiven Momenten: Bereits während des Vorspanns werden Zuschauer(innen) als Zuhörer(innen) zu Ohrenzeug(inn)e(n) von Regieangaben; nachdem eine Texttafel die Geschichte als wahren Fall präsentiert hat, werden die Rahmenhandlungsszenen mit Liv Ullmann als dokumentarfilmartiges Interview in Szene gesetzt - und besonders die Aufführung eines Puppenspiels nimmt in dieser Hinsicht noch eine Schlüsselstellung ein: Bei den von Merkens führt Lindhorst einen Ausschnitt der "Zauberflöte" als Puppentheateraufführung vor - und auf sein Kommando hin wird die Beleuchtung gelöscht und die "Zauberflöte" gespielt und gesungen, ohne dass einer der Anwesenden sich um die Erledigung dieser Dinge kümmern würde. In dieser Szene lässt Bergman Lindhorst nicht nur die Puppe im Guckkasten - die sich bei genauerem Hinsehen als tatsächlicher Schauspieler aus Fleisch und Blut erweist, der in der maßstabsgerecht vergrößerten Guckkastenimitation möglicht künstlich-ungelenk agiert -, sondern gleich die Filmschaffenden außerhalb der filmischen Realität dirigieren. Das ist eine für sich genommen beachtliche Szene, die nicht untypisch für den Bergman der ausklingenden 60er Jahre ist: vergleichbare Momente, welche die scheinbare Realität eines Films deutlich als Schein, als Film, als Kunstwerk erkenntlich machen, findet man auch in "Persona" (1966) und "Passion" (1969) (und überhaupt im zeitgenössischen Weltkino vom Autorenfilmer bis zum Mainstream-Routinier). (Bergmans "Fängelse" thematisiert Ähnliches bereits 1949 und in "Det sjunde inseglet" (1957) lässt sich in Äußerungen Jofs (Nils Poppe) bereits Bergmans Maxime entdecken, dass die Kunst lügt, um Wahres zu vermitteln.) Insofern stellen diese Szenen nichts (für Bergman) ungewöhnliches dar, allerdings erweitern sie den Film um eine weitere Ebene.
Das wäre generell nicht weiter schlimm, aber der dann einsetzende Monolog über die "Zauberflöte", der stellenweise wechselnde Stil (so etwa die extrem kontrastreichen Rückblenden zu zermürbender Musik; oder die direkt aus Fellinis "Otto e mezzo" (1962) stammenden subjektiven Kamerafahrten[6]) und zwischengeschobene kleine Höhepunkte wie die 60sekündige Pause, in welcher Kinopublikum sowie Filmfiguren erkunden, wie lang eine Minute werden kann (Bergman vollendet hier quasi, was Godard in "Bande à part" (1964) angefangen hat!), sorgen dann für derartig viele Wechsel, dass die generell schon auf zwei Ebenen (auf realer und wunderbarer Ebene!) interpretierbare Geschichte reichlich strapaziert wird. Letztlich hat Bergman einen Metafilm, einen Kommentar auf phantastische Erzählweisen, eine in sich wieder verschieden auslegbare psychologische Studie aus der Innensicht des Studienobjekts gleichermaßen geschaffen, die zudem mit weiteren Einschüben aufgebrochen wird. Doch da Bergman hier einen narrativen Film in Szene setzt und kein filmisches Essay, gibt es hier eben noch eine Handlung, die unter dem ganzen Ballast doch etwas zu leiden hat, zumal augescheinlich wichtige Elemente - etwa Johans Beziehung zur Vogler oder Johans homoerotischen Neigungen - zwar erwähnt, aber kaum jemals ausgiebig durchgespielt werden.
Dass Bergman hier eines seiner älteren, unverfilmten Drehbücher nach einer neuen Überarbeitung als Ausgangspunkt genommen hat, verwundert da kaum und erklärt das etwas brüchige Endergebnis, das etwa an Polanskis Meisterwerke über Psychosen & Paranoia nicht heranreichen kann.

Die Vernachlässigung von glaubhaften bzw. nachvollziehbaren Motivationen zugunsten eines perfekt eingefangenen individuellen Alptraums (der Spinnenmann, die Frau, die mit dem Hut gleich das ganze Gesicht entfernt, oder Lindhorsts unheimliche Vogelhaftigkeit gegen Ende des Films sind durchaus Bilder, die etlichen Schockeffekten in diversen Horrorfilmen das Wasser reichen können!) erweist sich da als etwas störend und beeinträchtigt den Film, der ansonsten formal beachtlich ist und in seinem Angebot von Interpretationsansätzen schon beinahe überfrachtet anmutet, leider nicht unerheblich. Denn gerade dadurch geraten vereinzelte Gewissenqualen, Angstzustände und Konfliktsituationen eher zur Parodie auf Bergmansche Filme, als dass sie mit vergleichbaren emotionalen Extremsituationen aus "Tystnaden" (1963) oder "Viskningar och rop" (1972) mithalten oder sie gar überbieten könnten.
7/10


1.) So spricht man auch im Lexikon des internationalen Films davon, dass Bergman das "Psychogramm [...] mit Horrorfilmzitaten [...] ironisch bricht" und zieht die Möglichkeit einer Lesart des Films als Horrorfilm gar nicht erst in Erwägung - geschweige denn, dass man auf die Unsicherheit und damit die Unmöglichkeit der eindeutigen Einordnung verweist. (Lexikon des internationalen Films. Rowohlt 1987. S. 3640.)
Eine Ausnahme bildet aber beispielsweise Egon Netenjakob, der davon ausgeht, dass "menschenfresserische Dämonen noch unstrittige Wirklichkeit sind."
(Zitiert nach: Ronald M. Hahn/Volker Jansen: Lexikon des Horrorfilms. Bastei Lübbe 1985. S. 413.)
2.)
E. T. A. Hoffmann: Der goldene Topf. In: Ders.: Sämtliche Werke Bd. 2/1. Fantasiestücke in Callot's Manier, Werke und Musikschriften 1814. DKV 1993. S. 257.
3.) Ingmar Bergman: Die Stunde des Wolfs. Arthaus 2006. 01:08:20.
4.) Etwa in: "Der Film 'Wahnsinn' mit Conradt Veidt mußte kommen: er lag sozusagen in der Luft. Dieses schmale, kantige, fast transparente Gesicht, die unheimlich ausdrucksvollen Augen, die in Szenen der seelischen Depression in dunkler Glut unstet loderten, drängten zur vollen dramatischen Auswertung in einem Film der krankhaft verirrten Psyche. Margarethe Lindau-Schulz hat ihn geschrieben, Veidt war sein eigener Regisseur. Eine Zusammenarbeit von seltener, verstehender Einheitlichkeit. Es liegt etwas vom Geiste E.T.A. Hoffmanns in dieser aus Realem und Spukhaftem gemischten Phantasie, etwas von seiner halb skurrilen, halb schauerlich beklemmenden Eigenart, die auch szenisch und bildhaft wirkungsvoll lebendig wird."
(Film-Kurier (Berlin) Vol. 1, Nr. 116, 19. Oktober 1919, S. 1.)
5.) Etwa: "Faszinierend die untersetzte Gestalt von Werner Krauß. Halb Striese und halb E.T.A. Hoffmannsche Spukfigur. Alle seine Bewegungen, die seltsamen Gesten der Arme und Hände, der schlurfende Gang, der Timbre seiner Stimme, entkeimen dem Stil der Szene. Er ist nicht mehr Krauß, er ist Dr. Caligaris, wie er leibt und lebt, nicht nur in den kurzen Zeiträumen der Aufnahme, sondern in seinem ganzen Wesen, auch während der Pausen, im Gespräch."
(Film-Kurier (Berlin) Vol. 2, Nr. 4, 6. Januar 1920, S. 1.)
6.) Sogar die Gestik einzelner Figuren entspricht hier stellenweise Vorbildern aus Fellinis Film, der seinerseits wieder von Bergmans "Smultronstället" (1957) beeinflusst gewesen zu sein schien, gleichwohl Fellini diesen Film nie gesehen haben will.

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