Seit dem Skandal, der nach 1960 um sein Drama "Das Schweigen" aufgebauscht wurde, hatte Ingmar Bergman seinen Stil weiterentwickelt. Von der Bilderwucht früherer Arbeiten wie "Wilde Erdbeeren", wurde der Fokus mittlerweile vollständig auf nicht selten von Zweifeln geplagte Protagonisten gelegt, die mit sich selbst und der Welt um sie herum oft nicht im Reinen waren. "Schreie und Flüstern" bildet in diesem Zusammenhang keine Ausnahme. Doch hat der Film sich früheren Werken wieder angenähert und darum auch visuell so einiges zu bieten. Die Kraft der Bilder unterstützt hier die Geschichte. Ganz im Gegensatz zu Bergmans "Persona", bei dem so manche Symbolik einfach nur aufgesetzt wirkte, kann man bei "Schreie und Flüstern" von einer geradezu perfekten Symbiose zwischen Form und Inhalt sprechen.
Die Handlung spielt gegen Ende des 18. Jahrhunderts auf einem schwedischen Landsitz. Agnes (Harriet Andersson) ist schwer krank und wird deshalb von ihren Schwestern Karin (Ingrid Thulin) und Maria (Liv Ullmann) sowie von dem Dienstmädchen Anna (Kari Sylwan) gepflegt. Doch obwohl umsorgt, verschlechtert sich Agnes´ Zustand rapide. Angesichts dieser angespannten Situation brechen bei den Frauen alte Wunden wieder auf. Längst vergessen geglaubte Erinnerungen treten zu Tage. Erinnerungen, mit denen jede Einzelne von ihnen am Liebsten schon abgeschlossen hätte. Doch vor der Vergangenheit gibt es kein Entrinnen!...
Wieder einmal macht sich Ingmar Bergman daran, die menschliche Seele zu sezieren und neben den Hoffnungen und Sehnsüchten der Charaktere vor allem die Abgründe und die hässlichen Seiten ihres Lebens ans Tageslicht zu zerren. Der Mann scheint inzwischen ein ungemein souveränes Gespür für diese Themen entwickelt zu haben, macht er bei allem Tiefgang der Geschichte doch zu keinem Zeitpunkt den Fehler, nur auf eine Verstörung des Zuschauers zu setzen. Dabei weist "Schreie und Flüstern" durchaus schockierende Momente auf. Sei es der plötzliche Selbstmordversuch von Marias Mann oder besonders die Szene, in der sich Karin auf geradezu beklemmende Weise selbst verletzt- der Zuschauer muss so einiges schlucken! Doch Bergman überspannt den Bogen nie. So gibt er der Handlung genug Raum, um sich entfalten und dementsprechend Wirkung zeigen zu können. Auf der anderen Seite wirkt das Geschehen aber auch keineswegs in die Länge gezogen. Sprich: der Streifen ist anspruchsvoll und von eher ruhigem Tempo, aber zu keinem Zeitpunkt langatmig!
Dazu tragen neben der durch die Bank weg hervorragend agierenden Besetzung, bei der man gar nicht weiss, wem man hier den Vorzug geben soll, vor allem die atemberaubenden Bilder von Kameramann Sven Nykvist bei. Gerade die eindrucksvolle Farbdramaturgie, die besonders im Kontrast von "weiß" und "rot" zu bestechen vermag, macht neben der atmosphärischen Inszenierung und der fesselnden Story einen Großteil der Faszination dieses Werkes aus. Zudem outet sich Bergman hier endgültig als Frauenversteher, schafft er es doch trotz allen Schwächen welche die Figuren von Ingrid Thulin und Liv Ullmann aufweisen, niemals vollständig die Verbindung zum Zuschauer zu kappen. Stattdessen werden Karin und Maria als Frauen gezeichnet, die nicht aus ihrer Haut können. Dass sie es dennoch immer wieder versuchen, erzeugt schon fast automatisch ein gewisses Maß an Sympathie, trotz der oft vorherrschenden Unzugänglichkeit. Im Endeffekt ist dieser Film aber von einer schlichtweg kalten Atmosphäre gezeichnet, was nicht nur an dem schonungslos inszenierten Überlebenskampf von Harriet Andersson liegt. Die Abschiedsszene zwischen Thulin und Ullmann untermauert dies noch einmal und zeigt auf, dass dies in erster Linie ein Film über Kommunikationslosigkeit und mangelnde Liebe ist. Obwohl offensichtlich aus guten Verhältnissen stammend und materiell abgesichert, geht es Karin und Maria alles andere als gut. Die eine ist nicht in der Lage, Liebe zu empfangen, die andere nicht fähig, sie zu geben. Aus diesem Umstand heraus entwickelt sich das Schicksal von Agnes recht schlüssig, ist doch die Einzige, die ihr wirkliche Nähe und Zuneigung entgegenbringt das Dienstmädchen Anna. Sie ist auch die einzige Person, die durch und durch selbstlos handelt, während alle anderen ständig am Abwegen sind und ihr eigenes Wohl stets über alles andere stellen. Die Sequenzen, in denen die Charaktere starr geradeaus sehen und vom Flüstern übermannt werden, haben somit schon fast etwas von Heimsuchungen an sich.
Man merkt es schon: "Schreie und Flüstern" ist einer dieser Filme, die sich im Gedächtnis festsetzen. Wie sonst auch, geht es Bergman hier nicht darum, den kleinsten gemeinsamen Nenner beim Publikum zu finden und möglichst gefälliges Kino zu liefern. Der Mann gibt sich nun einmal nicht mit Oberflächlichkeiten zufrieden. Stattdessen zwingt er den Zuschauer, sich (bewusst oder unbewusst) mit so mancher schmerzlichen Frage auseinanderzusetzen und stürzt ihn dabei in ein intensives Wechselbad der Gefühle, das ihn nicht so schnell wieder loslassen wird. Wenn man überhaupt etwas kritisieren möchte, dann dürfte dies der (ähnlich wie bei "Persona") eher deplazierte Off-Kommentar in den Rückblenden sein. Anstatt eines fremden, übergeordneten Erzählers, wären hier wohl eher die Monologe der jeweiligen Figuren angebracht gewesen. Abgesehen davon gibt es allerdings kaum etwas auszusetzen. Denn einmal mehr kann man erleben wie präzise Ingmar Bergman menschlichen Dramen ein Gesicht verleiht.
Fazit: Das Ergebnis ist ein durch und durch beeindruckender Film. Ein Juwel, das sich hinter dem "Schweigen" nicht im Geringsten verstecken muss. Sehr sehenswert und einer von Bergmans Besten!
9/10 Punkten