Ingmar Bergman benötigt selten epische Tragweiten, um seine Geschichten zu erzählen. “Schreie und Flüstern” legt davon ein beeindruckendes Zeugnis ab: Obwohl durch die Verlagerung der Geschichte ins 18. Jahrhundert eine historische Dimension Einkehr findet und obwohl mit Hilfe einiger Rückblenden dem Erzählstil eine diachronische Eigenschaft angefügt wird, steht das Synchronische, sprich: die Analyse der Gegenwart im Mittelpunkt der Betrachtung.
Die Synchronie ist hier eine Ausnahmesituation, deren Ausnahmecharakter die Wahrheit über das Dreiecksverhältnis dreier Schwestern (Harriet Andersson als todkranke Agnes, Ingrid Thulin und Liv Ullman als Karin und Maria) geben soll. Im Angesicht des Todes zeigen sich die wahren Gesichter der Menschen, die bisher ein verschlossenes Leben miteinander führten, und ein aus dem genetischen Kreis ausgeschlossenes Dienstmädchen steigt zur mütterlichen Erlöserfigur auf, den Bedürfnissen der Kranken eine Erfüllung gebend, die ihre Schwestern nicht zu geben imstande sind.
“Schreien und Flüstern” ist in seiner gnadenlosen Konsequenz nicht nur ein unangenehmer Film, er erzeugt tatsächlich körperlichen Ekel. Die psychologische Härte der Bilder ist auch in Bergmans Vita beispiellos; nicht einmal der Identitäten verzerrende “Persona” gelangt an die zermürbende Intensität heran, die der in knallrot gestrichenen Räumen vollzogenen Totenwache innewohnt. Die Todeskrämpfe der Agnes sind nur schwer zu ertragen; man möchte den Ton leise stellen, wenn ein kaum mehr menschlich zu nennendes Schreien und Stöhnen tief ins Mark eindringt.
Sven Nykvist, er bekam für seine Kameraarbeit den Oscar, dringt bisweilen unter die Pigmentierung der Hautoberfläche seiner Opfer ein; die Totalen der bedrohlichen Räume, die Wärme und Sicherheit nur vorgaukeln, sind gar Erholung, denn in der Alternative gibt es leidende, schmerzverzerrte Gesichter in Nahaufnahme, ziellos suchende Augen und emotionslose Starre, derer sich der Zuschauer schon bald ermächtigt und sich dabei fragen mag, was in diesem Moment wohl im Kopfe eines Todgeweihten vorgehen mag.
Fast noch unerträglicher jedoch der Umgang der körperlich gesunden Schwestern mit der Situation, die aufgrund der schwierigen Lage am Rande der Resignation stehen, sich und Ihresgleichen aufgeben möchten. Erland Josephson, ein Jahr darauf spielte er Liv Ullmans Mann in “Szenen einer Ehe”, stellt Ullman als Hausarzt vor den Spiegel und spielt den Psychologen, oder einfach Menschenkenner. Er hält ihr die eigene Maske vor, die sich ihre Figur Maria über Jahre angeeignet hat; er sieht die verräterischen Falten, den abschätzenden Blick auf der Schönheit dieses Gesichtes und mutmaßt eine verkümmerte Pflanze im Inneren einer Fassade, die für die Öffentlichkeit bestimmt ist; die Bestätigung wird durch die schon erwähnten Rückblenden eingeholt, in denen Maria, Karin und Agnes als Kinder gezeigt werden - im Umgang mit ihrer Mutter, die wiederum von Liv Ullman gespielt wird und der Maria damit am ähnlichsten sieht - ein Ungleichheitsmerkmal, das zum unnatürlichen Verhältnis der Schwestern beigetragen haben könnte. Dem brüchigen Familiennetzwerk wird ein Puzzleteil nach dem anderen zugefügt, pointiert mit frontal auf die Kamera ausgerichteten Gesichtern, die in einer rot gefärbten Abblende versinken. Blutschuld für die Vergangenheit - Leid für die Gegenwart - ein Warnsignal für die Zukunft.
Der mit gesundem Menschenverstand nicht mehr zu erklärende letzte Akt bringt das Werk Alfred Hitchcocks “Psycho” nahe, nähert sich dem psychologischen Gegenstand jedoch von einer anderen, surrealen Seite aus. Im Tode erst die Erkenntnis zu finden, ist das Paradoxon des Filmes, der das Glück des Lebens als kurzlebig, ja minutiös bezeichnet, den Tod dagegen als Ewigkeit - dem “Glück auf Erden”, so kurz es auch andauern mag, wird damit aber keineswegs der Sinn abgesprochen. Das Gegenteil ist der Fall.