„Dogville“ zu sehen, heißt zunächst einmal, alle konditionierten Sehgewohnheiten zu vergessen und sich auf ein völlig neues Filmerlebnis einzulassen. Regisseur Lars von Trier, vor allem durch sein „Dogma“-Manifest zu Ruhm gelangt, leistet hier Bahnbrechendes, was das Set-Design eines Kinofilms betrifft und stellt den Zuschauer so vor eine Herausforderung.
Die Geschichte an sich ist eher simpel: Während der Depressionszeit verschlägt es die hübsche Grace (Nicole Kidman) in das Kaff „Dogville“, irgendwo in den Rocky Mountains. Dorfbewohner Tom (Paul Bettany) überredet die anderen Einwohner, die Flüchtige im Dorf zu verstecken. Grace ist sehr angetan und bietet den Leuten Hilfe bei deren alltäglichen Arbeit an, was diese jedoch bald schamlos ausnutzen. So wird der Ort, der Grace zunächst Zuflucht gewährt hat, zu einem wahren Alptraum.
Von Trier hält sich bei der Umsetzung ganz an die Vorgaben des brechtschen epischen Theaters. Die Ausstattung ist minimalistisch gehalten, das Geschehen spielt sich über volle drei Stunden auf einer Theaterbühne ab, auf welcher die meisten Gegenstände lediglich mit Kreidestrichen markiert sind. Türen, Fenster und Mauern muss sich der Zuschauer ebenfalls vorstellen, es sind nämlich keine vorhanden. Ziel des Ganzen ist selbstverständlich die Konzentration aufs Wesentliche, was die fehlende Ablenkung durch überflüssige Setgegenstände garantiert. Es zählt nur das Handeln der Protagonisten und das abschließende Urteil des Zuschauers über diese. Brecht war gegen die Involvierung des Betrachters in die Geschichte, er verlangte vielmehr nach einer distanzierten Auseinandersetzung mit dem Gesehenen. Von Trier gelingt es zwar, dem Zuschauer ein Urteil abzuzwingen, von distanzierter Betrachtungsweise kann aber dennoch keine Rede sein. Erstens versetzt einen die handkameraartige Inszenierung scheinbar mitten ins Geschehen, zweitens muss man nach all den Grausamkeiten, die Grace angetan werden, einfach Mitgefühl mit ihr haben.
Interessanterweise stört es dabei kaum, dass man im Grunde genommen die pure Künstlichkeit vor sich hat. „Dogville“ ist nur schemenhaft dargestellt, man bekommt keine Bilder vorgekaut, sondern muss sich sein eigenes Bild von der Stadt machen, sowohl optisch als auch menschlich. Die Entwicklung der Dorfbewohner von zwar misstrauischen, aber freundlichen Menschen zu wahren Bestien ist kaum vorzuahnen und ist neben der Frage nach Graces Herkunft das hauptsächliche Spannung fördernde Element. Die wird nämlich erst ganz zum Schluss aufgelöst und lässt den Zuschauer genau das sehen, was er vorher sehen wollte: Die Peiniger müssen für ihre Taten büßen. Doch kaum läuft das Massaker, wird klar, dass dieser Racheakt (und nichts anderes ist es) reiner Machtmissbrauch seitens Grace ist, und zwar eine Stufe höher als derjenige der Dorfbewohner vorher. Ein tragisches Ende einer Beziehung, die so verheißungsvoll begonnen hat.
Übrigens ist „Dogville“ keine Kritik an Amerika, so wie das einige Betrachter dort aufgefasst haben, vielmehr möchte Lars von Trier verdeutlichen, wie der Besitz von Macht Menschen ändern kann, und zwar nur zum Schlechten. Das Dörfchen in den Rocky Mountains soll dafür nur als Beispiel dienen. Möglicherweise fühlten sich die Amis auch nur auf den Schlips getreten, weil die Dorfbewohner alles andere als den amerikanischen Traum verkörpern.
Lars von Triers Film präsentiert sich genauso sperrig wie der Text des großartigen Bowie-Songs „Young Americans“, der im Abspann Bilder von ärmsten Existenzen untermalt. Man sollte sich das Ganze selbstverständlich nur mit klarem Kopf ansehen und sich dabei ruhig einen Abend Zeit nehmen. Auch wenn ordentlich Sitzfleisch abverlangt wird, ist es empfehlenswert, „Dogville“ an einem Stück anzusehen, bei einer längeren Unterbrechung tut man sich nämlich äußerst schwer, wieder in dieses einzigartige Werk hineinzufinden. Selbstverständlich ist das kein Film, den man sich immer wieder ansehen kann, aber es ist wohltuend anderes Qualitätskino mit Anspruch und alleine dafür sollte man dankbar sein.