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”My heart is crying lonely teardrops (...)”

Als Ben sich dazu entschließt, sein Hab und Gut zu verbrennen, ist sein Leben für ihn bereits verwirkt. Frau und Kind sind lange fort, den Job als Drehbuchautor hat er verloren und mit der üppigen Abfindung plant er, sich inmitten von Leuchtreklame und Roulettetischen der Spielermetropole Las Vegas in den langsamen Freitod zu saufen. An seinem Entschluss ändert auch die Bekanntschaft zur Prostituierten Sera nichts, deren Schicksal dem von Ben nicht unähnlich ist.

Selten hat die Academy mit der Vergabe eines Oscars besser entschieden als anlässlich der Verleihung im Jahr 1996 in der Kategorie „Bester Hauptdarsteller“. Dort erhielt Nicholas Cage den Goldjungen für seine Rolle in Mike Figgis’ „Leaving Las Vegas“; eine Leistung, die für seine Karriere nicht nur einen Meilenstein bedeutete, sondern bis heute seine persönliche Bestleistung darstellt. Cage spielt den verbitterten und vom Leben gezeichneten Trinker mit einer Überzeugungskraft, dass man als Zuschauer nicht nur einen geläuterten Menschen vor sich hat, sondern vom ersten Moment an tiefe Einblicke in dessen qualvolles Seelenleben erhält.

Nach einer locker gehaltenen Eingangssequenz, in der sich Ben fröhlich pfeifend im Supermarkt mit allerlei Spirituosen bevorratet und demonstrativ das Regal mit dem Lebenselixier Wasser meidet, zeigt schon die zweite Szene die tiefen Abgründe des Alkoholikerdaseins. Ausgestattet mit Fahne und wirrem Gelalle versucht er verzweifelt, in seiner Stammkneipe eine Frau anzubaggern. Ein Versuch, der naturgemäß zum Scheitern verurteilt ist. Doch auch nach Schließung des Lokals kann Ben nicht genug bekommen. Nach einem weiteren Alkoholexzess in einem Stripteaseclub landet er schließlich bei einer Hure, die ihm zudem auch noch seinen (sich immer noch an seiner Hand befindlichen) Ehering entwendet.

Diese ersten Minuten zeigen bereits in beklemmenden Bildern, auf welch leidvollen Weg Mike Figgis seine Hauptfigur schicken wird. Ein Weg, den der Zuschauer schonungslos und in aller Konsequenz mitgeht. Doch Ben ist hier nicht der einzige, der in seinem Leben bereits schmerzliche Erfahrungen hat einstecken müssen. Auch Sera, gespielt von der ebenfalls herausragenden Elisabeth Shue, ist vom Leben nicht gerade verwöhnt. Trotzdem fristet sie ihr Dasein als Prostituierte mit einer gewissen Würde, die von ihrem Zuhälter Yuri (Julian Sands) durch Misshandlungen ein ums andere mal untergraben wird. Dieser hat seinerseits große Schwierigkeiten mit der russischen Mafia und benutzt Sera, um das Geld für die Begleichung seiner Schulden einzutreiben. Vergebens, wie sich bald herausstellen soll.

Genau wie Ben sieht auch Yuri sein baldiges Ende kommen, doch im Gegensatz zu ihm fügt er sich nicht in sein Schicksal, sondern versucht es mit allen Mitteln abzuwenden. Eine Schlüsselszene stellt daher die (einzige) Begegnung der beiden bei einem Pfandleiher dar: Der freiwillige Todgeweihte Ben bekommt für seine alte Uhr ein stattliche Summe (für noch mehr Alkohol) ausbezahlt, während der verzweifelte Yuri kaum etwas zählbares einstreichen kann. Zwei Schicksale, die unter verschiedenen Vorrausetzungen auf das selbe Ziel hinauslaufen.

Ob Vorsehung oder Zufall, Ben und Sera finden sich; wenn auch zunächst nur in Form der üblichen Dienstleistung. Nach einigem hin und her gehen die beiden zusammen aus, verbringen Zeit miteinander, finden im Angesicht des anderen Trost. Für sie ist die sich anbahnende Romanze der Ausgangspunkt zu neuer Hoffnung, für ihn scheinen es lediglich Blumen auf seinem bereitstehenden Sarg zu sein. Den verächtlichen Blicken ihrer Vermieterin zum Trotz nimmt sie den inzwischen reichlich verwahrlosten Ben schließlich in ihre Wohnung auf. Hier will sie ihn zum Einlenken bewegen, ihm helfen, seinen Suizid auf Raten abzubrechen. Doch Ben bleibt hart, lässt sich auch durch die eigenen Gefühle nicht von seinem selbstzerstörerischen Plan abbringen.

Die Liaison der beiden wird als klassische Liebesgeschichte erzählt, bekommt aber durch die drastische Bildersprache und der damit verbundenen Abwesenheit jeglichen Hoffnungsschimmers auf ein glückliches Ende einen nachdenklichen Beigeschmack. Andererseits weiß Figgis es auch, die Leidenschaft darzustellen, durch die diese Romanze geprägt ist. Ganz egal, wie viel Hochprozentiges Ben in sich hineinschüttet, Sera begleitet ihn. Gleichermaßen akzeptiert er, dass sie weiterhin ihren Körper verkauft. Nicht aus Gleichgültigkeit, wie man hier schnell vermuten könnte, sondern aus Akzeptanz. Sie nehmen sich in ihrer scheinbar aussichtslosen Lebenslage so, wie sie sind. Bedingungslos und ohne Kompromisse. Beide sind bald voneinander so abhängig wie Ben vom Alkohol. Mit dem Unterschied, dass diese neuen Gefühle für Ben als „Antidroge“, wie er es selbst formuliert, nicht ausreichen. So greift er, um seinen Weg zu vollenden, schließlich zum verachtenswertesten Mittel, um auch die letzte helfende Hand aus seinem zur Neige gehenden Leben zu verbannen.

Schauplatz dieser menschlichen Tragödie ist die titelgebende Glitzermetropole Las Vegas. Während überall um sie herum das Leben pulsiert, die Leute ihr überschüssiges Geld am Spieltisch verzocken und die Menschlichkeit keinen Platz mehr zu finden scheint, entdecken die beiden Hauptcharaktere in dieser verkünstelten Welt aus Schein und Sein ihr Glück auf ihre eigene Art. Doch ebenso schnell wie dieses einen am Spieltisch übermannt, so schnell ist es auch wieder weg. Ein trauriger wie realistischer Fakt, der durch die Umgebung der beiden eine Versinnbildlichung erfährt. Zum anderen steht dieser Ort für den Sündenpfuhl, in dem die Protagonisten waten. Glücksspiel, Sex, Gewalt – alles kommt in den Hinterhöfen des Glanz und Glamours zum Vorschein. Einerseits sind die beiden Hauptfiguren ein Gegenentwurf zum Schein und Sein. Sie vollziehen ihr Leben ohne sich zu verstellen und stehen über der Intoleranz ihrer Mitmenschen. Andererseits werden ihre abwegigen Lebensweisen bisweilen auch gekonnt karikiert: In einer Szene unterhalten sich Ben und Sera auf einer hell erleuchteten Straße mitten in der Stadt, während im Hintergrund zwei Nonnen Broschüren verteilen und die Menschen vor jenem „sündigen Dasein“ warnen. Eine Warnung, die für Ben und Sera eindeutig zu spät kommt.

Mike Figgis liefert uns einen tiefen Einblick in die Mechanismen des seelischen Verfalls. Ein Mann, der den Tod sucht und im Verständnis eines anderen Menschen Hoffnung findet, diese aber ausschlägt. Eine Frau, die in ihrem ebenso deprimierenden Leben Geborgenheit sucht und diese in einem Todgeweihten findet. Wer sich auf diese zur Tragödie verdammte Konstellation einlässt, bekommt schauspielerische Glanzleistungen der beiden Hauptdarsteller geboten, die ihre Figuren mit Leidenschaft und Hingabe verkörpern. Dazu findet der Regisseur eine Bildersprache, die mit vielen visuellen Stilmitteln aufwartet. In diesem Zusammenhang ist zum Beispiel die Szene bemerkenswert, in der Ben aus dem Leuchtreklameschild seines Hotels mit dem Namen „The Whole Year Inn“ in Gedanken den seine Situation treffend beschreibenden Ausspruch „The Hole You’re In“ macht. Dies wirkt absolut passend, kein Stück aufgesetzt und fügt sich als tragikomisches Element perfekt in die Dramaturgie ein.

„Leaving Las Vegas“ ist ein klassisches Drama und eine eindringliche Auseinandersetzung mit dem Wert des Lebens. Ist Suizid tatsächlich der letzte logische Ausweg, sein Leiden zu beenden? Oder kann es selbst auf den dunkelsten Abschnitten unseres Weges noch Momente des Glücks geben, die die Kraft haben, den freiwilligen Abgang von dieser Welt zu verhindern? Wenn man in der düstereren Grundstimmung dieses Meisterwerks eine Funken Optimismus findet, dann in der Tatsache, dass jedes Leben lebenswert ist, auch wenn wir es bei allem Leid in dieser Welt manchmal nicht wahrhaben wollen.




Nachtrag: Der Film basiert auf dem gleichnamigen Roman des Schriftstellers und Ex-Alkoholikers John O’Brien, der sich zwei Monate vor Beginn der Dreharbeiten das Leben nahm.

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