Ich bin kein Experte was die literarischen, äh, "Ergüsse" des alten Wüstlings de Sade angeht. Ich habe bisweilen nur gelangweilt in zwei seiner Werke - zugegeben oberflächlich - herumgelesen und war dabei eher gelangweilt. Daher kann ich diesen Film auch nicht auf einer Ebene beurteilen, auf der dann in Zusammenhang mit den realhistorischen Umständen vielleicht eine entsprechend andere Interpretation möglich wäre. Ergo kann ich nur beschreiben, wie der Film an sich auf mich gewirkt hat.
Man soll ja kein Buch nach seinem Cover bewerten, aber durchaus nach seinem Titel; das gleiche gilt dann wohl auch für einen Film. Jedenfalls straft allein die Altersfreigabe von FSK 12 die voyeuristisch verlockende Schlüssellochszene auf der DVD Lügen! Dazu kommt dann noch der reisserische Untertitel "Folge Deiner Lust" der deutschen Fassung, für den die Produktion von Benoit Jacquot zwar nichts kann, ihr aber dennoch einen Bärendienst erweist: "Folge Deiner Langeweile" wäre zutreffend, ehrlicher.
Der Text auf dem Backcover verspricht dem Zuseher ein "üppiges (...) Tableau der Sinnlichkeit", ein "großes Schauspiel der Lüste". Die wenigen Erotikszenen, die der Film dann zeigt sind dann aber dermaßen bieder inszeniert, dass man meinen könnte, es wäre dem Regisseur geradezu peinlich gewesen einen nackten Busen zu zeigen. Der Höhepunkt ist dann die Verführung der jungen Emilie in der Scheune: dagegen sind die Foto-Love Stories in der Bravo die reinsten Hardcore Pornos!
Der echte Marquis hätte sich totgelacht über die Art und Weise wie seine Ideen hier in Szene gesetzt wurden - die Darstellungen hätten noch zu seinen Lebzeiten niemanden schockiert! Warum man sich aber dieser Materie überhaupt erst annimmt um sie dann derart gehemmt zu adaptieren, das wird wohl Jacquots Geheimnis bleiben.
Jedenfalls versagt der Film auch, wenn man ihn als Historiendrama, oder einfach nur als kritische Auseinandersetzung mit dem skandalösen de Sade betrachtet. Als Historienfilm bietet er lediglich ein paar harmlos gruselige - und leider nahezu kontextlose - Schnappschüsse aus der Zeit der Französischen Revolution. Es wird nicht einmal der Versuch unternommen, die komplexen politischen Zusammenhänge anzureissen. Zeitgeschichtlich bedeutsame Charaktere tauchen auf und verschwinden wieder, ohne dass dies für die Handlung einen wesentlichen Unterschied macht. Und auch de Sades Religionskritik bleibt weitgehend auf der Strecke.
Die Portraitierung von de Sade selber ist einfach nur lächerlich. Der Marquis kommt daher wie ein alternder Schwerenöter, ein geistig hochgebildeter Bohemien, ein Kavalier, der Frauen gern mal unter den Rock schaut und ansonsten als Philosoph im eigenen Land nichts wert ist - dafür als freigeistiger Denker seiner Zeit aber um Lichtjahre voraus! Nur leider hat Jacquot dann scheinbar selber rote Ohren bekommen, als es darum ging, in der Darstellung des Sujets der politischen Revolution auch die sexuelle Revolution folgen zu lassen. Im übrigen wirkt Daniel Auteuil als Marquis selbstverliebt, pseudo-sophistisch und hat mehr die Ausstrahlung eines liberalen Oberlehrers, als die eines radikalen, dekadenten Wüstlings. So wartet man auch auf scharfzüngige, geistreiche Dialoge leider vergebens.
Könnte man Pasolinis "Salo" vorwerfen zu versagen, weil die Perversion ungebrochen dargestellt wird und auf den Zuschauer nur noch abstossend wirkt, also den Wunsch zu reflektieren gar nicht mehr zulässt, so scheitert Jacquots Auseinandersetzung an der Banalisierung der Sadeschen Ideologie. Sie reduziert diese doch zumindest sehr beunruhigende Philosophie (wenn man sie dazu erheben mag) auf eine Art von sexueller Aufklärung, wie man sie so heutzutage in jedem Lifestyle Käseblatt präsentiert bekommt. Jacquots Marquis erinnert irgendwo einfach an eine ungepflegte Mischung aus Casanova und Dr. Sommer.
Fazit: dem Film mangelt es an Tiefgang, weil vielleicht die Entschlossenheit fehlte, aus einer extremen Vorlage eine extreme Umsetzung zu machen. Das ist so, als wollte man einen Maserati GT voll ausfahren und hat dabei aber die Handbremse bis zum Anschlag angezogen. Also wurde aus dem Projekt ein harmloser (und verharmlosender!), pseudo-intellektueller Kostümfilm. So romantisch wie eine Rosamunde Pilcher Verfilmung, so geistreich wie das Wort zum Sonntag, so aufklärerisch wie eine Folge vom Schulmädchenreport, so verdorben wie Tutti Frutti und dabei so spannend wie Kommissar Rex.