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Stelle dir folgendes vor: Du stehst mitten in den Vereinigten Staaten in einer Wüste auf einem schnurgeraden Highway. Hinter dir und vor dir eine durchgehende graue Linie, die das orangebraune unebene Feld durchbricht. Die Sonne strahlt durch die Bergwipfel am Horizont, der Wind weht dir sanft das Haar aus deinem Gesicht.
Dein Blickfeld offenbart dir nun zwei Dinge: einen langen Teil der Strecke, die hinter dir liegt, und einen ebenso langen Teil, der vor dir liegt. Du kannst den Highway noch kilometerweit überblicken.
Aber: Was befindet sich eigentlich hinter dem Fels, der sich nur drei Meter zu deiner Linken befindet? Kannst du aus deiner aktuellen Position hinter diesen Fels blicken? Nein. Nicht einmal den Felsen selbst hättest du registriert, wenn ich dich nicht auf ihn aufmerksam gemacht hätte.

Willkommen auf dem “Interstate 60", wo dich ein kleines Juwel von einem Film erwartet. Sei darauf vorbereitet, nach magischen 111 Minuten vollkommen perplex dazusitzen, denn nie hättest du erwartet, eine solche Substanz im nun schon drei Jahre alten Film-Regiedebüt eines Mannes vorzufinden, der obendrein massenhaft Stars verpflichten konnte - James Marsden, Gary Oldman, Amy Smart, Christopher Lloyd, Kurt Russell, Michael J. Fox. Und zwar bei einem Film, der so unbekannt ist wie die Fläche hinter dem Felsen. Die Ironie hat wieder bitter zugeschlagen: Du musst dir die Zeit nehmen, den Weg zum Interstate 60 zu suchen, denn auf der Landkarte findest du ihn nicht. Vielleicht musst du auch ein wenig mit der Nase drauf gestoßen werden - deswegen diese Zeilen.

Du wirst dich in den ersten Minuten wundern; bist du auf einen angeblichen Heilsbringer reingefallen, der einen durchschnittlichen sentimentalen Film über den Sinn des Lebens aufgeschwatzt hat? Es ertönt der erzählsprachliche Off-Kommentar des Hauptdarstellers. Wie hieß es in “Adaption”? Der Off-Kommentar ist das narrative Mittel der Faulen und Unfähigen. Noch dazu wird er von einem talentfreien Schauspieler gesprochen, dem man gleich noch die Hauptrolle übertragen hat. James Marsden heißt der Junge, und einmal mehr scheitert er darin, einen Film zu tragen. Von Glück kann er reden, dass sämtliche Nebenrollen mit hochkarätigen Stars besetzt sind und ihm die Last abnehmen.
Wie geht es dir bis zu diesem Moment? Ich denke, du wirst noch auf etwas warten, etwas Verblüffendes, was dir versprochen wurde. Aber diesen plötzlichen Aha-Moment wird es nie geben.

Es ist vielmehr eine schrittweise Folge zur Begeisterung. Die einleitende Szene in der Bar kann dich noch überzeugen - hier ist unverhofft von der amerikanischen Ideologie die Rede, von der Substanz, die hinter der amerikanischen Kultur steckt. Am Beispiel von Wunschfeen verschiedenster Kulturen in verschiedensten Formen - darunter auch der Weihnachtsmann - wird dir gezeigt, dass Amerika eine solche Figur fehlt, die auf die eigentlichen amerikanischen Wurzeln zurückzuführen ist. Ein alter Trunkenbold funkt dazwischen und behauptet das Gegenteil - ein gewisser “O.W. Grant” basiere eben doch auf der amerikanischen Kultur.
“O.W. Grant” siehst du kurz darauf in Form von Gary Oldman (mit kurzen, roten Koboldhaaren) mit dem Fahrrad und einer Affenpfeife im Mund vorbeifahren. Später nennt er seinen vollen Namen: “O.W.” steht für “One Wish”, und du kombinierst: “One Wish Grant” - ein Wunsch wird dir gewährt. Gary Oldman spielt also eine Art amerikanischen Dschinn im Koboldstil. Der Wunsch als das Sinnbild für Amerika - eine Parabel auf den amerikanischen Traum? Du jubilierst - dieser Film könnte tatsächlich etwas zu sagen haben.

Zu Beginn fehlt dir dieses kleine, aber feine Puzzleteil allerdings noch, und so wirst du dich noch schwer tun mit der ausgelutschten Vater-Sohn-Beziehung (schwerreicher Vater will, dass Sohn in seine Fußstapfen tritt, Sohn hat aber andere Pläne mit seinem Leben), den infantilen Märchenfiguren (Eine Affenpfeife, die grünen Rauch qualmt? Sind wir hier im Kasperletheater?) und der Moral, die so dicht über der Handlung hängt wie eine Nebelbank über einem tristen Herbstmorgen.
Spätestens, wenn unserem von James Marsden gespielten Helden (Neil Oliver sein Name) ein Eimer auf den Kopf fällt, er ins Krankenhaus geliefert wird und sich dort mit einem ominösen Grünkittel namens Ray (Christopher Lloyd) unterhält, beginnst du, zu begreifen, dass mehr hinter diesem Roadmovie steckt, das nun seinen rätselhaften Schlund öffnet und ein Kabinett von kuriosen Einzelepisoden losreißt. Der Dialog ist philosophisch interessant, er offenbart so viel und lässt doch immer noch zu viel im Verborgenen. Was zum Teufel will dieser Film dir eigentlich sagen? Du weißt es nicht, aber du bist bereits lange gefesselt von der Geheimniskrämerei, die selbst mit dem Abspann so vielschichtig und multifunktional interpretierbar bleibt wie zu Anfang. Du bist gleichzeitig schlauer und verwirrter mit jeder Minute, die verstreicht.

Der “Interstate 60" ist zunächst schwer zu finden - einmal jedoch gefunden, ist er der Kanal zu vielen verrückten Orten, die du nun zusammen mit James Marsden besuchst. Eigentlich folgt der nur Straßenschildern, auf denen Amy Smart mit ihrem herzzerbrechenden Lächeln abgebildet ist - und diese Bilder kann nur er sehen. Und du, versteht sich.
O.W. Grant begleitet euch ein Stück auf dem Highway. Ihr nehmt eine Anhalterin mit, eine Nymphomanin - grandios, wirst du sagen, wenn du diese erste kleinere Einzelepisode hinter dich gebracht hast. Der Dialog ist von übergeordneter Klasse, zudem ganz offensichtlich nicht direkt mit der Handlung verbunden, sondern ganz klar mit einem Subtext versehen. So würden die Figuren in einer normalen Situation nicht reden - das merkst du, und du verstehst, dass hier eine Art Metapher erstellt wird für einen Sachverhalt, der auf die Zustände in Amerika abzielt. Und die Art, wie dies vorgetragen wird - du bist entzückt. Gary Oldman sorgt für treffsicheren Humor - er lacht zusammen mit Marsden über seine eigene körperliche “Unregelmäßigkeit” wie über einen guten Witz.

Was siehst du noch? Satire auf Kunst und das, was die Kunst zur Kunst macht; Satire auf das amerikanische Rechtssystem und die damit verbundene “Kläger-Kultur” und das Überangebot an Anwälten; Satire auf den Umgang mit Drogen und das Auseinanderfallen amerikanischer Kleinfamilien; Satire auf das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung, von Lohn und Arbeit. Dir wird klar, dass Regisseur Bob Gale selbstkritisch mit der äußeren Gelacktheit der US-Ideale aufräumt und die Fassade durchbricht, die uns glauben lässt, Amerika sei eine eigene Welt ohne Schwächen, das unumstrittene Vorzeigemodell für die ganze Welt. Und wie geschickt all dies miteinander verwoben und auf das Leben der Hauptfigur und seine Orientierung abgestimmt ist, das wird dir nochmals eine besondere Erwähnung wert sein. Du bewegst dich durch diese Welt wie durch einen Traum. Du erlebst viele Was-wäre-wenn-Szenarien. Du kommst in den Genuss vertrackter Dialoge, die so viel Wahrheit vermitteln, dass du mit dem Nicken kaum nachkommst.

Dass James Marsden nie ein wirklich guter Schauspieler wird, diese Tatsache, dieses Fakt ist nach den knapp zwei Stunden so bedeutungslos, wie es nur sein kann. Du wirst zu sehr beschäftigt sein, über die Grenzen des Films hinaus über dessen Bedeutung nachzudenken. Du bleibst perplex zurück und weißt, dass es jenseits der Hauptstraße in kleinen, dunklen Gassen immer mal wieder funkelnde Diamanten zu entdecken gibt. “Interstate 60" ist selbst einer, weil er über diese Diamanten aufklärt; weil er Gesellschaftssatire in Perfektion darstellt; weil er ehrlich ist; weil er in den Bann zieht und eine einnehmende, eigentümliche Atmosphäre ausstrahlt.
Und das weißt du jetzt.
8.5/10

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