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Der 16jährige Jamie lebt mit seiner Mutter, einem älterem Stiefbruder und zwei jüngeren Brüdern ohne Vater in einer verwahrlosten Gegend in Adelaide. Der Ton in der Familie ist nicht aggressiv, aber die Familie ist recht arm, das Haus sehr schäbig. Der neue Freund der Mutter, ein Nachbar, entpuppt sich als Pädophiler, der die Jungs nackt fotografiert und sie (vermutlich auch) berührt.
Erst der neue Freund der Mutter, John, entpuppt sich langsam aber sicher als jemand, der die Jungs so akzeptiert, wie sie sind, mit dem die Mutter glücklich ist und der mit Jamie Sachen unternimmt, die eigentlich ein Vater mit seinem Sohn machen sollte. John hat jedoch auch eine dunkle Seite an sich, er wettert selbstgerecht unablässig gegen Kinderschänder, Junkies, Schwule und andere "Außenseiter", die er alle in einen Topf wirft, versucht die Nachbarschaft aufzuhetzen und drängt Jamie, seinen Hund als Mutprobe einfach so ohne Grund zu erschießen.
Immer mehr lässt sich der orientierungslose Jamie auf diese Vaterfigur John ein und bemerkt, dass John mit diversen Kumpels eben diese Leute, gegen die er zuvor gehetzt hat, tötet...

Um es vorweg zu nehmen: eigentlich ist "Snowtown" ein Film, dem man vermutlich entweder nur hassen oder mögen (ich sage jetzt mal nicht lieben) kann. Ich konnte mich weder zum einen noch zum anderen entscheiden. Der erste Langfilm des Australiers John Kurtzel beruht auf der wahren Geschichte des John Bunton, der schlimmste Serienkiller Australiens.
Der Film hat einen stark dokumentarischen Charakter und ist v. a. stellenweise in der anfänglichen lapidaren Schilderung der häuslichen Gewalt (so wird Jamie von seinem älteren Stiefbruder einfach mal so anal vergewaltigt) und Hoffnungslosigkeit sehr stark. Auch Daniel Henshall als John Bunton ist großartig in seiner kleinbürgerlichen, spießigen Selbstgerechtigkeit, die er auf alles um sich herum überträgt und die ihn zu einem, in seinem Augen, Mörder mit einem sozialen Auftrag macht. Die Musik, nur sparsam eingesetzt, ist eindringlich und mehr als passend. Und dennoch: als erstes hätte ich mir gewünscht, dass Kurtzel seinen Film um mindestens 20 Minuten gekürzt hätte. Zu sehr sind Handlungen und v. a. die fahlen Bilder redundant bis zum Erbrechen eingesetzt, Figuren tauchen auf und verschwinden wieder ohne Sinn, Jamies Passivität ist sicher aus seiner familiären und sozialen Situation heraus erklärbar und ist dennoch weniger verstörend als vielmehr ärgerlich. Spätestens nach dem Mord von John an seinem drogenabhängigen Freund hätte ansatzweise eine Glocke bei ihm klingeln müssen. So blieb eine permanent große Distanz zu den Figuren und ich habe mich stellenweise wie ein Besucher in einer sozialen Freakshow gefühlt. Sicherlich ist es verdammt schwer, Sympathie oder Empathie in einer solchen Figurenkonstellation zu entwickeln, und dennoch minderte dieses Unvermögen des Drehbuchs bei mir den Zugang.
Schockierend fand ich den Film bis auf wenige Szenen nicht wirklich. Stellenweise erinnerte mich die Szenerie an den genialen belgischen Film "Ex Drummer" von 2007, der auch in einer hochgradig dysfunktionalen Umgebung spielt, dabei aber eine Wucht und Dynamik entwickelte, die den Zuschauer in einen Sog zu ziehen vermochte.
Vermutlich wollte John Kurtzel aber nicht den Anspruch aus den Augen verlieren, einen Arthouse-Film über einen Killer zu drehen - eigentlich ein sehr interessanter und guter Ansatz, aber in meinen Augen ist er dabei gestolpert. Zu zähe Handlungsabläufe und wirre Figurenkonstellationen sind nicht automatisch intellektuell.
Wie gesagt, "Snowtown" empfand ich nicht als verschenkte zwei Stunden wie manche neben mir im Kino, er hatte einige sehr faszinierende Aspekte und ein nihilistisches Drama ist immer etwas für mich, aber leider ging dem Film irgendwie die Puste aus. Schade.
Wer ein faszinierendes Drama aus Australien (und ich habe eine Schwäche für Filme aus Down Under) sehen will, der sollte sich mal "I am You" angucken, ein Film mit einer viel stärkeren emotionalen Kraft als "Snowtown".

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