Jacques Rozier, der Name wird wahrscheinlich selbst Bewunderern der Nouvelle Vague wenig sagen. Ein Oeuvre von fünf Spielfilmen, sieben Kurzfilmen und ein paar Arbeiten fürs französische Fernsehen, von denen der Großteil quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand, sind allerdings wirklich nicht viel, um sich in der Filmgeschichte zu verewigen, zumal wenn man einen ganz eigenwilligen, den Massengeschmack nicht unbedingt befriedigenden Stil verfolgt, der sich in opulenten Laufzeiten, konsequenten Verweigerungen gängiger narrativer Schemata und einem realitätsnahen, dokumentarischen cinéma-vérité-Look äußert. Entstanden über einen Zeitraum von nahezu einem halben Jahrhundert stellt sich Roziers Werk als eindeutiges Kind seiner Zeit dar, ist tief in der Nouvelle Vague verwurzelt, auch wenn rein zeitlich gesehen von seinen Spielfilmen im Grunde nur sein erster, ADIEU PHILIPPINE, bereits 1960 gedreht, jedoch erst zwei Jahre später in die französischen Kinos gebracht, mit dieser zusammenfällt. Inwieweit Rozier sich nun selbst als Teil der Neuen Wellen sah, inwieweit er mit den bekannteren, heute jedem Cineasten bekannten Regisseuren wie Godard, Rohmer oder Truffaut verkehrte, ob er sich mit ADIEU PHILIPPINE eindeutig in ihr verorten wollte oder ob es sich eher um einen Zufall handelte, dass sein Debut den Geist der Zeit atmete, kann ich nicht sagen, offensichtlich ist aber, dass man im Grunde alle Kriterien, die aus retrospektiver Sicht die Nouvelle Vague auszeichneten, problemlos auf den Film anwenden kann.
Ein Grund, weshalb Godard später der Meinung war, sein Ziel, einen durch und durch realistischen Film zu schaffen, mit À BOUT DE SOUFFLE nicht erreicht zu haben, werden mit Sicherheit die aus dem amerikanischen Kino entlehnten Zitate, Klischees und Stereotypen gewesen sein, die, zwar gebrochen und ständig auf einer Metaebene reflektiert, seinen Erstling von der ersten Minute an durchziehen. Ganz anders als Godard interessierte sich Rozier offenbar nie für Hollywood in der Weise, dass er es sich irgendwie in seinem Werk niederschlagen ließ. Die Gangster, Terroristen, Spione, Räuber und Geheimgesellschaften, die einem bei Godard, Truffaut und Rivette ständig über den Weg laufen, sind bei Rozier ebenso abwesend wie irgendwelche Genreregeln. ADIEU PHILIPPINE hat mehr von einer so objektiv wie möglich gehaltenen Dokumentation als von einem Zitatenspiel für Cineasten. Seine Hauptfiguren sind zwei junge Mädchen aus Paris, Juliette und Liliane, beste Freundinnen, die sich nicht nur ein Appartement teilen, sondern auch von der Liebe zu Michel vereint werden. Der bestreitet seinen Lebensunterhalt noch als Techniker beim aufstrebenden französischen Fernsehen, soll aber in Kürze eingezogen werden, um für sein Vaterland in Algerien zu kämpfen. Nach einer kurzweiligen Zeit in Paris, in der beide Mädchen hin und her gerissen sind zwischen ihren Gefühlen zu Michel und ihrer Loyalität untereinander, folgen Liliane und Juliette Michel, der es einfach nicht schafft, sich für eine von ihnen zu entscheiden, nach Korsika, wo der seine letzten Tage in Freiheit verbringen möchte. Im Grunde fassen diese beiden Sätze alles zusammen, was man als Handlung in den fast zwei Stunden vorfindet, die ADIEU PHILIPPINE andauert. Eine Narration im klassischen Sinne gibt es nicht. Selbst wenn man darauf hofft, dass wenigstens das Finale so etwas wie klare Verhältnisse bringt und Michel endlich mit einer seiner Verehrerinnen zusammenkommen lässt, erwartet einen am Ende genau die gleiche Unentschlossenheit und Verwirrtheit, die die Charaktere den gesamten Film über ausmacht. Michel, Liliane und Juliette sind uneindeutig in ihrer Positionen, haben ihren Platz in der Welt noch nicht gefunden, pendeln ständig hin und her, angestoßen von ihren Gefühlen, die sie selten kontrollieren können. Mal sind die Mädchen kindisch, mal selbstironisch, mal zicken sie sich an, mal verhalten sie sich erwachsener als ihnen wahrscheinlich bewusst ist. Entscheidungen werden durchweg impulsiv und spontan getroffen, eine Spontaneität, die Rozier nicht nur auf inhaltlicher Seite permanent zum Ausdruck bringt, wenn er sein Drehbuch alles andere als geschlossen gestaltet, es mehr wie eine Ansammlung loser Episoden sein lässt, die mitunter äußerst sprunghaft wechseln und selten aufeinander aufbauen, sondern auch auf den Stil seiner Inszenierung ausweitet.
ADIEU PHILIPPINE lässt sich alle Zeit der Welt. Dass die Kamera den Mädchen gerne mal minutenlang beim Shoppen zuschaut, sich in der Betrachtung von Tanzszenen verliert, die die Story kein Stück voranbringen, oder ohne Schnitte lange Dialoge und Diskussionen aufzeichnet, die sich im Kreis bewegen und rein an Informationen so gut wie gar nichts für den Zuschauer bereithalten, wird alles mit einer Selbstverständlichkeit zelebriert, als habe Rozier tatsächlich statt engagierten Schauspielern Menschen aus Fleisch und Blut bei ihrem Alltag zugeschaut. Ein Disput der Familie Michels am Mittagstisch über die aktuelle Politik Frankreichs, Autos und die Jugend könnte so oder so ähnlich wohl tatsächlich in einem beliebigen bürgerlichen Pariser Haushalt von 1960 stattgefunden haben, und auch wie Michel und seine Freunde auf Mädchenfang gehen, versuchen, wildfremde Damen mit ihren fahrbaren Untersätzen und ihren coolen Sprüchen zu beeindrucken, fängt der Film derart unmittelbar ein, dass es beeindruckt, was für ein feinsinniger Beobachter der Jungen Generation Rozier seinerzeit gewesen sein muss. Immer bleibt er dabei auf dem Boden der Tatsachen. Nichts in ADIEU PHILIPPINE wirkt gekünstelt oder gestellt, von jeder Szene kann man glauben, dass sie exakt aus der Wirklichkeit entnommen wurde. Rozier zeigt junge Leute in Cafés, junge Leute an Stränden, junge Leute beim Auflehnen gegen ihre Elterngeneration, und scheint seine fiktiven Figuren einzig dazu zu benutzen, ein breitgefächertes Bild der Gesellschaft zu zeigen, in der seine Helden ihre Bestimmung suchen. Der Algerienkrieg, Popmusik und die Diskrepanz zwischen romantischer Liebe und der unromantischen Realität ist dabei ebenso Thema wie der Aufschwung des neuen Mediums Fernsehen. Dass ADIEU PHILIPPINE mich trotz alldem nicht mal ansatzweise so sehr berührte wie Roziers zweiter Spielfilm, der erst 1973 erschienene DU CÔTÉ D’OROUET, liegt womöglich auch daran, dass ein heutiger Betrachter all die Innovationen, die einem hier serviert werden, kaum noch schätzen kann, da sie mittlerweile zum Allgemeingut gehören und längst auch vom Mainstream absorbiert wurden. À BOUT DE SOUFFLE, um noch einmal auf Godard zurückzukommen, hat da vielleicht den Vorteil, den sein Regisseur ihm später als Nachteil auslegte: seine Figuren sind nicht aus dem Leben entnommen, sondern aus Typen konstruiert, erhalten ihre Frische und Authentizität, so paradox es klingen mag, aus ihrer Fiktion. Die vermeintlich echten Mädchen und Jungen in ADIEU PHILIPPINE mögen detailgetreue Bilder ihrer Zeit sein, lassen in ihrer ganzen Zerrissenheit und Realität allerdings selten zu, dass ein Betrachter sich in ihre Gefühlswelt hineindenken oder gar hineinfühlen kann.