Es ist schwer zu sagen, welchen Fall von Missbrauch und Kindesentführung MICHAEL thematisiert. Einerseits wirkt er wie die Österreichs Aufarbeitung des Falles Josef Fritzl, der seine eigene Tochter 24 Jahre lang in einer Kellerwohnung gefangen hielt und mit ihr sieben Kinder zeugte. Andererseits sind die Parallelen zum Fall Natascha Kampusch, die über einen Zeitraum von acht Jahren in der Gewalt eines Entführers war, beinahe deutlicher.
Der Titel MICHAEL ist mit Bedacht gewählt. „Michael“ – ein Allerweltsname, spiegelt die Ratlosigkeit wieder, der man gegenüber steht, wenn erneut ein Bericht über einen Fall, wie oben beschrieben, in den Medien erscheint. Aussagen wie „Er war eigentlich immer recht freundlich, aber sehr zurückgezogen“ oder „Niemand hat etwas bemerkt“ werden laut. „Michael“, der Name des Täters im Film, steht auch die für die Gesichtslosigkeit des Täters, der in der Gemeinde erst so richtig auffällt, wenn es zu spät ist.
Schauspieler Michael Fuith (RAMMBOCK) übernimmt die schwierige Aufgabe, dem Monster, als was der Täter im Nachhinein oft verschrien ist, ein Gesicht zu verleihen. Der Film portraitiert den Alltag des Sexualverbrechers und Kinderschänders. Michael hat einen ganz normalen Bürojob. Dort ist er unauffällig, aber exakt und strebsam. Soziale Kontakte hat er kaum, meidet diese sogar. Seine Unfähigkeit dazu stellt sich während eines Skiurlaubs und vor allem in Kontakt mit Frauen heraus. Als Michael dann nach getaner Arbeit nach Hause kommt, steigt er als erstes die Treppen seines Kellers hinab, wo er an eine schwere, verriegelte Tür gelangt. In einem schalldichten, aber liebevoll eingerichteten Raum sitzt ein kleiner Bub, der den Blick nicht hebt, wenn sich die Türe öffnet. Michael kümmert sich gut um den Bub. Er gibt ihm zu essen, lässt ihn abends fernsehen, kauft Medizin, wenn der Junge erkältet ist, nimmt ihn sogar einmal mit in den Zoo. Michaels Verhalten wirkt behütend und krankhaft zugleich. Was sich genau im Kopf eines Pädophilen abspielt, deutet der Film nur an, was gut ist. Dass Michael die Beziehung zu dem Bub als Liebesbeziehung sieht, wird angedeutet. Ein bildhafter sexueller Übergriff bleibt dem Zuschauer glücklicherweise erspart.
In unserer Gesellschaft gibt es ziemlich konkrete Vorstellungen davon, was sexuell „normal“, also anerkannt ist, und was nicht. Zu den so genannten Paraphilien, sprich sexuellen Abweichungen, gehören u.a. Fetischismus, Exhibitionismus, Voyeurismus, Zoophilie, Nekrophilie und Pädophilie. Lobenswert ist, dass MICHAEL den Täter nicht als Monster oder haltlos Wahnsinnigen, sondern eher als psychisch krank darstellt, obgleich Michael bis auf seine sexuelle Neigung nicht abnormal auftritt. Der Film lässt alle erdenklichen Meinungen zu dem pikanten Thema zu. Von der Meinung, solche Leute gehören kastriert, für immer weggesperrt, umfangreich therapiert bis hin zum Ruf nach der Wiedereinführung der Todesstrafe dürfe wohl alles dabei sein. Der Film versucht jedoch nicht, den Zuschauer in eine bestimmte Richtung zu drängen. MICHAEL ist schlicht ein Versuch, den Alltag eines pädophilen Kindesentführers darzustellen und sein Wesen zu charakterisieren
Der Vergleich hinkt zwar, da Kindesmissbrauch als viel aktuelleres Problem erscheint, doch MICHAEL weist gewisse Ähnlichkeiten zu LIEBEN auf, der sich auch recht objektiv mit dem Thema Nekrophilie auseinander setzt.
Das Regiedebüt des Wieners Markus Schleinzer bietet viel Raum zur Diskussion. Populismus kann dem Film aber ebenso wenig vorgeworfen werden wie ein zu reißerisch er Umgang mit dem Thema.
Fazit:
Aufarbeitung eines österreichischen Traumas? Oder Thematisierung eines allgegenwärtigen Problems, vor dem man nur zu gerne die Augen verschließt?
Zumindest ein realistisches, unkommentiertes Portrait eines Pädophilen.