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Manchmal ist es schwer, einen Film korrekt einzukategorisieren. Nach über 100 Jahren Kino verwischen die Genres ineinander, werden neu erfunden, und dann abermals über den Haufen geworfen. Ist es meist schon schwer ein korrektes Genre für den aktuellen Sommerblockbuster zu definieren, ist es bei "Lawinen über Tolzbad" eine Lebensaufgabe, den der kanadische Filmregisseur 1992 drehte.

Der im deutschen Titel bereits verratene Ort, wird als "Tolzbad" präzisiert. Und hinter diesem Namen versteckt sich überraschenderweise genau das, was man mit einem derart rustikal-arischen Regionsnamen assoziiert: Eine groteske "Heimatfilm"-artige Hommage an den deutschen Expressionismus mit Anleihen an das ebenso urige "Bergsteigergenre". Und obwohl wir uns im Jahre 1992 befinden, drehte Guy Maddin auch genauso, wie man es für ein expressionistisches Bergabenteuer zwischen deutschen Eichen erwarten darf:

Zuerst ist der Film in Schwarzweiß gedreht, so wie es Regisseur Maddin bisher immer tat. Um jedoch dem Drängen seines Produzenten zu entsprechen, nachkolorierte Maddin den kompletten Film. Jedoch weigerte sich Maddin mehr als zwei Farben auf einmal in einem Bild zu verwenden, oft sogar nur ein monochromer Farbton (erinnert oft an Riefenstahls "Das blaue Licht"). In ganz besonderen Szenen bekommen wir es mit maximal drei verschiedenen Farbrichtungen zu tun - das ist dann aber auch das Höchste der Gefühle. Da er mit Absicht die veraltete 2-strip-technicolor-Technik benutzte, um dem Film seinen ganz speziellen Look zu verpassen, sehen die Farben oft verwaschen, ausgebleicht und inkorrekt aus. Außerdem häufen sich Artefakte und Dropouts auf dem Filmmaterial - nicht zuletzt Absicht, um dem Zuschauer das Gefühl zu geben, er würde zeitgenössisch entstandenes Material sehen. Die Bilder, die Maddin durch diese Technik einfängt, sind ähnlich retro gedreht worden. Oft zeigt er uns Schemen, die wie ein Schattenspiel im Gegenlicht in der Pappkulisse agieren - ein jeder wird sofort an "Das Kabinett des Dr. Caligari" erinnert. Auch die Effekte sind meist nichts mehr als simple Überblendungen - wer hier Referent-CGI sucht, der muss nach Hollywood. Auch die Tonspur ist verrauscht und voller Knackser. Der Dialog ist meist neugemischt oder komplett nachsynchronisiert, wirkt nie natürlich oder atmosphärisch passend zu den Bildern.

Haben wir es also formal schon mit einem mächtigen Kuriosum zu tun, so geht es inhaltlich immer mehr "den Berg hinab". Zwar beschreibt uns Maddin jene keusche, zurückhaltende, ziemlich einfältige Heimatfilmidylle zur Jahrhundertwende, jedoch lässt er keinen Stein auf dem Anderen. So ist das Bergstädtchen Tolzbad unter der ständigen Gefahr unter Lawinen bedeckt zu werden, sollte ein lautes Geräusch jene Schneemassen lösen. So sind die Bewohner dazu verdammt zu flüstern und den Kühen die Stimmbänder zu durchtrennen. Hier wohnt Johann, der eines Tages ein Butler sein möchte, und dessen Herz der reinen Klara gehört. Als die Heirat beschlossen ist jedoch, verfällt Johann an inzestuöse Gedanken zu seiner Mutter und bringt sich als Konsequenz selbst um. Sein Bruder, Grigorss nimmt seine Stelle ein, und wird bald Butler bei dem verschrobenen Grafen Knotkers, der ihm eine frühere Liaison zu seiner Mutter offenbart. Um die Familienehre wiederherzustellen, fordert Grigorss den Grafen zu einem Duell heraus. Ach ja... und ein blinder Geist, ein regungsloser Dachbewohner und eine mordende Schwester sind da auch noch...

"Lawinen über Tolzbad" ist vergnügliche Avantgarde mit besonderer Loyalität zum Stil und zur Verpackung der expressionistischen Kunst, so kurios wie parodistisch, so in Erfurcht verbeugend, wie verschmitzt ironisch. Allein wegen der antiken Technik, die Maddin hier einsetzt, ist "Lawinen über Tolzbad" ein herrliches Filmereignis, ein moderner Griff in die Mottenkiste, um ein wunderschönes Kleinod kanadischen Films herauszufischen, auch wenn man es nicht in eine Genreschublade stecken kann.

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