Als Michelangelo Antonioni Anfang der 60er Jahre seine Trilogie „L‘avventura“, „La notte“ und „L’eclisse“ entwarf, betonte er die innere Leere seiner Protagonisten mit Insignien der Moderne – große, gleichförmige Flächen, weite, leere Räume und die radikale Reduzierung der Form, begleitet von einer allgemeinen Sprachlosigkeit. Weder Schönheit, Reichtum, noch ihre gesellschaftliche Stellung konnten sie davor bewahren, unglücklich und einsam zu sein. Auch in ihnen brodelte schon die Lust nach dem Abenteuer, nach der schnellen Liebesaffäre, die Ablenkung und emotionale Erfüllung erzeugen sollte, aber ihnen fehlte noch der Mut zum Ausbruch. Zumindest äußerlich mussten sie den Schein wahren, um nicht aus ihrer Gruppe verstoßen zu werden – für Antonioni ein entscheidender Grund für ihren inneren Zustand.
Betrachtet man „Shame“ als Fortführung dieses Gedankens über eine Gesellschaft, in der es dem Einzelnen immer weniger gelingt, zwischen tatsächlichen und von außen herangetragenen Bedürfnissen zu unterscheiden, kann man nur konstatieren, dass sich die Situation deutlich negativer entwickelt hat, als es selbst Antonioni voraussah. Heute ist ein solcher Tabubruch, den seine Protagonisten immer nur kurz wagten, bevor sie vor den möglichen Konsequenzen zurückzogen, kaum noch vorstellbar, denn Brandon (Michael Fassbender) stehen dagegen alle Möglichkeiten zur Verfügung, moralische Grenzen oder gesellschaftliche Normen scheinen nicht mehr vorhanden. Der gutaussehende, trainierte Mittdreißiger lebt in einer Wohnung in New York, von der aus er einen tollen Blick über die Stadt hat, er hat einen guten Job, ist gebildet, hat einen guten Geschmack und er weiß sich smart und amüsant zu unterhalten. Jedem Betrachter der Szene, als er nach einem erfolgreichen Geschäft mit seinen Kollegen in einer Bar feiert, ist klar, dass die Schöne im Anzug am Ende mit ihm Sex haben wird und nicht mit seinem Chef, der sie zuvor selbstgefällig und aufgeregt angebaggert hatte.
Äußerlich entspricht Brandon damit der heutigen Idealvorstellung eines „Gewinner“-Typen, eine Illusion, die keineswegs sofort zerstört wird, als „Shame“ ihn bei der ständigen Suche nach dem sexuellen Kick zeigt, egal ob er sich eine Prostituierte nach Hause bestellt, Pornos ansieht oder eine schnelle Bekanntschaft in einer Bar hat. Denn anders als ein Alkoholiker oder Drogensüchtiger bewahrt Brandon dabei die äußere Form, wirkt selbstbewusst und bleibt attraktiv. Dieser Eindruck scheint sich zuerst noch zu bestätigen, als seine Schwester Sissy (Carey Mulligan) in seine Wohnung kommt und gleich einen chaotischen Eindruck hinterlässt. Die junge Sängerin ist sehr emotional, sucht geradezu die Nähe zu Menschen, wirkt gleichzeitig aber unausgeglichen und wenig glücklich. Das kulminiert in dem Moment, als sie „New York, New York“ – durch Frank Sinatras Interpretation weltberühmt geworden - quälend langsam intoniert, ganz nah am Inhalt aus der Sicht eines Gescheiterten, wodurch Brandon einen Moment lang zu Tränen gerührt wird.
Mit dieser gegensätzlichen Darstellung macht Regisseur Steve McQueen deutlich, dass es ihm nicht darum geht, hier einen sexsüchtigen Macho als oberflächliches „Arschloch“ (Zitat McQueen) in den Mittelpunkt zu stellen, sondern Menschen, denen es nicht mehr gelingt, zu sich selbst zu finden. Entscheidend daran ist, dass sie aus ihrer selbst gewählten Lebensform nicht mehr ausbrechen können, sich letztlich ähnlich beschränken, wie die Menschen in Antonionis Filmen. Brandon verliert durch die Konfrontation mit seiner Schwester, die seinen geordneten Alltag stört, zunehmend die Fassung, wird beleidigend und brutal. Seine sich steigernde Sexsucht, begleitet von der Unfähigkeit Nähe zuzulassen, zerstört zunehmend das Bild des attraktiven, erfolgreichen Mannes, auch dank des großartigen Spiels Fassbenders, dessen Mimik beim Orgasmus von dem verzweifeltem Wahnsinn geprägt ist, für einen Augenblick seine innere Leere überdecken zu müssen. Die Symbolik dahinter ist deshalb so generell, weil sein Leben dem hedonistischen Ideal des modernen Menschen entspricht, der sich prinzipiell keinerlei Grenzen mehr auferlegen müsste, der sich stattdessen aber sein eigenes Korsett aufbürdet, weil er mit dieser Freiheit nicht umgehen kann.
Durchaus abwechslungsreich, voller attraktiver Menschen hat McQueen „Shame“ entworfen - die Abbildung eines Lebens in New York mit schicken Lofts, Restaurants und Bars. Doch er hinterlegt schon die ersten Bilder mit ernster Musik, um erst gar keinen Spaß daran entstehen zu lassen, denn letztlich enden auch bei ihm die Menschen wie bei Antonioni – allein und zusammen gesunken inmitten trostloser Räume. (8/10)