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Besonders aufregend klingt die Story vordergründig nicht - ein Paar will sich nach etwa 14 Jahren Ehe scheiden lassen. Auch die äußeren Umstände sind nicht besonders ungewöhnlich. Sie haben eine gemeinsame bald 12jährige Tochter, die natürlich unter der Trennung leidet und noch nicht weiß, bei welchem Elternteil sie zukünftig leben wird, finanziell gehören sie zur gehobenen Bürgerschicht und selbst der Trennungsgrund hört sich nur im ersten Moment außergewöhnlich an - sie will aus ihrem Heimatland ausreisen, nachdem endlich die notwendigen Papiere für die Familie vorliegen, er hat es sich inzwischen anders überlegt, da er seinen an Alzheimer erkrankten Vater, der mit in ihrer gemeinsamen Wohnung lebt, weiter pflegen will. Emotional fühlen sie sich noch verbunden, aber sie wären nicht das erste Paar, dass sich trennt, weil sich mit der Zeit unterschiedliche Zielrichtungen zwischen den Partnern heraus kristallisieren.

Es wäre nun leicht, in der Tatsache, dass "Nader und Simin" in Teheran spielt und unter manchmal schwierigen Umständen im Iran gedreht wurde, die Besonderheit der Story zu erkennen, denn genau damit täte man Regisseur und Drehbuchautor Asghar Farhadi unrecht, der im Gegenteil eine betont normale Geschichte aus seinem Heimatland erzählen wollte. Genauso wäre es falsch, nach konkreter Kritik am diktatorisch geführten Gottesstaat zu suchen, denn die Menschen in Farhadis Film leben jeden Moment konform nach den Regeln ihres Staates. Selbst dem Ausreisewunsch von Simin (Laila Hatami) haftet keine grundsätzliche Kritik an, sondern mehr der etwas egoistisch klingende Wunsch einer Frau und Mutter aus wohlhabenderen Kreisen, ihrem Kind wirtschaftlich und politisch geregeltere Umstände bieten zu wollen. Deshalb gelten die Sympathien in dieser Trennung erst einmal Nader (Peyman Moaadi), dessen Beweggründe, in Teheran bleiben zu wollen, nachvollziehbar und menschlich sind.

Farhadi entwickelt seine Story hier - ganz im Sinne Douglas Sirks oder Rainer Werner Fassbinders - zwingend aus den äußeren Umständen heraus, und ist damit gleichzeitig generalistisch und letztlich doch kritisch. Es sind die kleinen Lügen des Alltags, die Dinge, die man schamhaft vor den Anderen verbirgt, die Vorurteile und die aus den normalen Widrigkeiten heraus entstehenden Reaktionen, aus denen die dramatischen Konsequenzen entstehen. Es gibt sie in jeder Gesellschaftsform und sie verraten in ihren spezifischen Eigenheiten mehr über deren inneren Zustand, als es von außen heran getragene politwissenschaftliche Betrachtungen vermögen.

Da das Scheidungsgericht Simins Argumente für eine Trennung nicht als ausreichend anerkannte - sie selbst betont das untadelige Verhalten ihres Ehemanns, mit dem sie am liebsten gemeinsam ins Ausland ginge - zieht sie erst einmal zu ihrer Mutter. Ihre Tochter, die gerade wichtige Prüfungen in ihrer Schule absolviert, bleibt beim Vater, auch weil sie weiß, dass ihre Mutter diesen damit nur unter Druck setzen will. Doch mit deren Weggang entfällt tagsüber der Betreuer für Naders kranken Vater, weshalb Simin selbst einen Ersatz organisiert. An diesem Punkt beginnt der eigentliche Konflikt, obwohl Niemand etwas konkret falsch macht, aber es werden erstmals die großen Unterschiede innerhalb der iranischen Gesellschaft deutlich.

Auch wenn Simin und ihre Tochter immer verschleiert sind, und Nader die Rolle des männlichen Familienoberhaupts spielt, so wird deren moderne Interpretation dieser Konstellation schnell deutlich. Die Religion wird nicht angezweifelt, aber sie spielt auch keine besondere Rolle im Alltag, so wie das Verhältnis der Eheleute untereinander gleichberechtigt ist. Allein schon die Tatsache, das sie offen die Ausreise voran treibt und er sich dafür verteidigt, warum er nicht mehr mit will, wäre in der Ehe von Razieh (Sareh Bayat) und Hodjat (Shahab Hosseini) unvorstellbar. Immer wieder wird es im weiteren Verlauf des Films zu teilweise körperlichen Konflikten zwischen den Männern kommen, die stark von Vorurteilen geprägt sind. Der arbeitslose, aus den armen Stadtteilen stammende Hodjat, wird Nader Respektlosigkeit und fehlende Religiösität vorwerfen - im Grunde ein klassischer Konflikt zwischen den Gesellschaftsschichten, im Iran zusätzlich stark durch die Staatsreligion geprägt, die von den weniger gebildeten Schichten deutlich konsequenter befolgt wird.

Zu der Begegnung zwischen ihnen kommt es, weil Razieh die Stelle als Pflegerin im Hause Naders antritt. Ihre Beweggründe sind ganz normal, da sie schlicht Geld verdienen muss, da ihr Mann auf Grund seiner Schulden gerade wieder im Gefängnis sitzt. Obwohl streng gläubig und fast immer komplett verhüllt, verstößt sie gegen verschiedene Regeln. Sie hätte ihren Mann um Erlaubnis fragen müssen, die dieser aber nie gegeben hätte, da sie nicht nur einen Mann pflegen soll, sondern auch noch bei einem allein stehenden Mann in der Wohnung arbeitet. Nader sieht darin keinen Konflikt, da er selbst tagsüber gar nicht anwesend ist und sein Vater geistig schon so krank ist, dass er sowieso Niemanden in Erinnerung behält.

Doch Razieh, vor allem als sie mitbekommt, dass sie Naders Vater auch beim Stuhlgang helfen muss, kommt damit nicht zurecht. Zuerst versucht sie noch, ihren Mann dazu zu überreden, diese Stelle anzunehmen - ohne zu erwähnen, dass sie selbst dort arbeitete - aber als dieser wieder ausfällt, macht sie doch weiter. Es kommt zu einer Verkettung aus Fehlern und ihrem schlechtem Gewissen, in dessen Folge Naders Vater fast stirbt, was dessen Sohn so sehr erregt, dass er Razieh, die nur ihre Achtung behalten will, keineswegs besonders fest in das Treppenhaus schubst, woraufhin die schwangere Frau angeblich ihr Kind verliert. Der Fall landet vor Gericht, denn Nader wird wegen Tötung angezeigt, aber wer nun glaubt, alle Tatsachen kämen auf den Tisch, irrt, denn der entstehende Konflikt verdeutlicht sehr genau den inneren Zustand einer Gesellschaft, deren Regeln sich nicht mit den tatsächlichen Bedürfnissen der Menschen vereinbaren lassen.

Fahradi bleibt bei seiner Schilderung dieser Ereignisse real und ohne übertriebene Emotionalität. Jederzeit unterhaltend, erstaunlich schnell im Tempo, vermeidet er psychologische Diskussionen, sondern beschreibt einfach nur eine Situation, in der sich die Beteiligten immer mehr verstricken, bis es zu Konsequenzen kommt, die hätten vermieden werden können. Ohne eine kritische Äußerung oder Handlungen der Staatsmacht abzubilden, entsteht so ein genaues Bild einer Gesellschaft, in der Regeln und Gesetze das Leben der Menschen bestimmen, die wenig mit unseren westlichen Vorstellungen von Selbstverwirklichung gemein haben. Und trotzdem wäre es falsch, Nader und Simin einfach als kritisches Abbild einer diktatorischen Gesellschaft anzusehen, nicht nur, weil dem Film jederzeit der Respekt auch vor anderen Lebensformen anzumerken ist, sondern weil jede Gesellschaftsform diese Regeln kennt, wenn auch in unterschiedlicher Intensität (9/10).

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