Die französische Regisseurin Céline Sciamma („Water Lilies“) blieb für ihren zweiten abendfüllenden Spielfilm ihrem Thema, dem Coming of age von Mädchen, treu: „Tomboy“ aus dem Jahre 2014 dreht sich um ein zehnjähriges Mädchen, das sich als Junge ausgibt.
Laure (Zoé Héran, „Let the Girls Play“) zieht mit ihrer schwangeren Mutter (Sophie Cattani, „Les Montana: Dérapage“), ihrem Vater (Mathieu Demy, „Stille Jagd“) und ihrer kleinen Schwester Jeanne (Malonn Lévana, „Poliezei“) in den Sommerferien in eine neue Gegend. Laure hat kurzes Haar, trägt am liebsten Hosen und spielt gern und gut Fußball. Ohne Wissen ihrer Eltern gibt sie sich ihren neuen Spielkameraden gegenüber als Mickäel aus – auch vor Lisa (Jeanne Disson, „Holy Motors“), in die sie sich verguckt hat. Laure versucht, ihr biologisches Geschlecht geheimzuhalten und genießt sowohl ihre Rolle als Junge als auch ihre Freundschaft zu Lisa. Doch ewig kann es so nicht so weitergehen…
„Tomboy“ ist ein sensibel erzähltes Jugenddrama, das zunächst auch das unbedarfte Publikum aufs Glatteis zu führen versucht: Erst nachdem man die Hauptrolle als Mickäel kennengelernt hat, erfährt man, dass es sich eigentlich um Laure und damit um ein Mädchen handelt. Der Titel „Tomboy“, umgangssprachlich für besonders burschikose Mädchen, verrät indes natürlich bereits, worum es geht. Möglich, dass all das nur eine Phase ist und Laure spätestens mit Beginn ihrer Pubertät Gefallen am Dasein als Mädchen findet, ob nun hetero-, bi- oder homosexuell. Möglich aber auch, dass sie gerade ihre Transsexualität entdeckt. Die unaufgeregte Erzählweise frei jeglicher Plakativität geht eine angenehme Verbindung mit dem grandiosen Schauspiel Zoé Hérans ein, die ihre Rolle überraschend glaubwürdig ausfüllt. Laure entwickelt einen Dualismus, infolgedessen sie außerhalb der elterlichen Wohnung ein Junge, Freund und Spielkamerad ist, zu Hause jedoch die Tochter und große Schwester (die indes eine ganz ähnliche Beschützerfunktion aufweist wie die eines großen Bruders) der herzallerliebsten Jeanne. Doch so sehr Laure zunächst auch alle Schwierigkeiten, die dieses Spiel mit den Geschlechtern mit sich bringt, trickreich meistert, steuert sie letztlich doch unaufhaltsam auf ein Dilemma zu.
Es wird immer schwieriger, die Illusion aufrecht zu erhalten. Nachdem Laure als Mickäel in einen nonverbalen Konflikt mit einem Nachbarsjungen gerät, kommt ihre Mutter hinter den Schwindel. Wie unsensibel und verständnislos diese mit der Situation umgeht, ist der erste wirklich erschreckende Moment des Films. Das Kartenhaus fällt daraufhin zusammen, Mickäels Clique verstößt ihn bzw. Laure. Der Ausgang des Films lässt offen, ob und wenn ja, wie die Beziehung zu Lisa weitergeht, von den zu erwartenden Problemen im Zuge der Einschulung nach Ferienende ganz zu schweigen. Als selbst nicht betroffener Zuschauer ist man an dieser Stelle sicherlich froh, diese Probleme nicht selbst zu haben, womit „Tomboy“ auch indirekt seine entscheidende Frage stellt: Ist das Geschlecht nicht vollkommen nebensächlich? Die Konflikte, denen Laure sich plötzlich ausgesetzt sieht, muten so absurd und ungerecht an, dass der Akzeptanz-Appell seine Wirkung nicht verfehlt.
Sciamma verzichtete komplett auf Filmmusik und hielt auch darüber hinaus ihren Film so natürlich wie möglich. „Tomboy“ wirkt dadurch mitunter etwas spröde, dafür aber umso authentischer, wodurch er sich gerade in der ersten Hälfte gar weniger wie ein Drama denn mehr wie ein leichteres Sommerabenteuer anfühlt. Schade ist, dass die Geschichte nicht weitererzählt wird, sondern auf ihrer dramaturgischen Klimax endet.