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Der historische Begriff „Friedliche Koexistenz" gehörte zu den Leitmotiven der Außenpolitik Nikita Chruschtschows. Dabei sollte vor allem das Verhältnis zum System-Gegner USA neu definiert werden. Diese für den Westen überraschende Doktrin war der Erkenntnis geschuldet, dass es nach einem Krieg - zumal bei einem nuklearen - nur Verlierer geben würde. Pikanterweise war die Menschheit in der Regierungszeit Chruschtschows einem dritten Weltkrieg bisher am nächsten gekommen. Dass die Koexistenz-Doktrin allerdings keine bloße Phrasendrescherei gewesen war, belegt wiederum das Einlenken des sowjetischen Parteichefs - wenn auch auf den buchstäblich allerletzten Drücker - in der Kubakrise.

Den Ursprung des X-Men-Universum in eben dieser Zeit anzusiedeln ist ein cleverer, weil äußerst stimmiger Einfall. Denn auch innerhalb der Gruppe der Comic-Superhelden die ihre übermenschlichen Fähigkeiten einem besonderen Gencode verdanken, ist die Frage nach dem friedlichen Zusammenleben der zentrale Motivkomplex. Menschen und Mutanten trennen zwar nicht gegensätzliche Ideologien, dafür aber die Furcht vor dem Unbekannten auf der einen Seite sowie Angst vor Unterdrückung, Verfolgung und Diskriminierung auf der anderen. Denkt man an die inneramerikanischen Verhältnisse der frühen 60er Jahre, als die Kommunismus-Paranoia unter Senator McCarthy auch die eigene Bevölkerung ins Visier nahm und die Bürgerrechtsbewegung die Diskriminierung der Schwarzen erstmals öffentlichkeitswirksam aufs politische Tages-Parkett brachte, sind die Parallelen zu den sozialpolitischen Botschaften der beliebten Comic-Serie noch augenscheinlicher.

Matthew Vaughns filmischer Reboot der X-Men-Reihe verknüpft dann auch fleißig Ereignisgeschichte und gesellschaftspolitische Strömungen der 1960er Jahre mit der fiktiven Handlung um die Entstehung der berühmten Mutantengruppe. Ob Kubakrise, Kommunistenhatz, oder Verfolgung von Minderheiten, stets sind auch die X-Men mal direkt, mal indirekt involviert. Die zahlreichen Anspielungen und Berührungspunkte sind clever arrangiert und dürften nicht nur historisch Interessierten ordentlich Spaß machen.

Neben den offenkundigen inhaltlichen Aspekten hat der Film in dieser Hinsicht aber auch optisch einiges zu bieten. Das superbe Set Design schwelgt in Reminszenzen an die frühen Bond-Filme und kann durchaus als gelungene Hommage an Ken Adam gesehen werden. Die liebevoll gestalteten Interieurs - wie ein riesiger Konferenzsaal, oder das Innere eines abkoppelbaren U-Boots - suggerieren permanent das Gefühl gleich käme Sean Connery um die Ecke.  
 
Darstellerisch musste man sich völlig neu orientieren, schließlich zeigt der Film die Anfänge der Beziehung zwischen den Erzfeinden Magneto und Xavier. Ian McKellen wird durch Michael Fassbender und Patrick Stewart durch James McAvoy ersetzt. Die Verjüngungskur der beiden Protagonisten hat der Serie aber keineswegs geschadet, im Gegenteil. Vor allem Fassbender glänzt als innerlich zerrissener Erik Lehnsherr alias Magneto und verleiht der Figur mehr Tiefe und Profil. Natürlich hat er den dankbareren Part, da McAvoys Charles Xavier zwar teilweise noch von jugendlichem Leichtsinn und einer ausgeprägten Schwäche für das weibliche Geschlecht abgelenkt wird, ansonsten aber schon deutlich die Züge des besonnenen und positiv denkenden X-Men-Patriarchen zeigt, den Stewart in drei Filmen etabliert hatte.

Der übrige Cast ist ebenfalls mit viel (Spiel-)Freude dabei, wobei vor allem Kevin Bacon mal wieder beweist, warum er als Fiesling immer eine gute Wahl ist. Sein ebenso sinistrer wie jovialer Sebastian Shaw strebt nichts weniger als die Weltherrschaft der Mutanten an und zettelt zu diesem Zweck kurzerhand den dritten Weltkrieg an. Womit wir wieder bei den zahlreichen Überschneidungen mit dem Bond-Universum wären. Shaw ist der klassische größenwahnsinnige Superschurke, der ebenso charmant wie stilvoll aus ganz eigennützigen Motiven mal schnell einen ordentlichen Weltenbrand entfacht.
Seine rechte Hand Emma Frost - ausgestattet mit telepathischen Fähigkeiten und bei Bedarf einer diamantenen Haut - würde sich nicht nur namenstechnisch bestens in den 007-Kosmos machen. Intrigant, eiskalt und unverhohlen auf Sexbombe getrimmt, erinnert sie frappierend an so illustre Henchwomen wie Viona Volpe (Feuerball) oder Helga Brand (Man lebt nur zweimal). January Jones konnte sich ja schon in der preisgekrönten TV-Serie Mad Men bestens mit dem 60er-Jahre Ambiente vertraut machen und musste lediglich die dort praktizierte, rollenbedingte  Zurückhaltung über Bord werfen.
Auch abseits des erwähnten Quartetts ist X-Men: First Class bis in die kleinsten Nebenrollen erstklassig besetzt. Erwähnenswert sind darunter insbesondere Jennifer Lawrence als sinnliche Gestaltenwandlerin Raven alias Mystique, Rose Byrne als beherzt-aufrichtige CIA Wissenschaftlerin Moira MacTaggert und Nicholas Hoult als sympathisch-nerdiges Wissenschaftsgenie Hank McCoy alias Beast.

Es ist dies die größte Leistung von Regisseur Vaughn, dass er in dem vielköpfigen Figurenkarussell  nicht den Überblick verliert und jedem Charakter seinen Auftritt gönnt und auch verschafft. Dass dabei die eigentliche Handlung etwas holzschnittartig wirkt ist ein entschuldbarer Nebeneffekt, der aber auch der gehetzten Produktionsphase geschuldet sein könnte.
Der Focus auf die Interaktion und Entwicklung der einzelnen Figuren hebt den Film wohltuend von dem missglückten dritten Teil ab, dessen überbordendes Effektgewitter keinerlei Raum für Subtilität oder nachdenklichere Passagen ließ. Zwar hat auch Vaughns Film spektakuläre Special Effects zu bieten, allerdings stehen diese immer im Dienst der Handlung und verkommen nie zum selbstverliebten Schaulaufen der jeweiligen Experten.

Im Zentrum stehen also nicht die Fähigkeiten der Mutanten, sondern die Frage, wann und wie diese einzusetzen sind und welche Folgen dies haben könnte. Dass dabei die einzelnen Betroffenen aufgrund ihres Charakters, ihrer Lebenserfahrungen und ihrer Umgebung zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen kommen, macht den besonderen Reiz dieser Neuauflage aus. Es ist ebenso spannend wie unterhaltsam die diversen Mutanten auf ihrem Weg in die zwei gegensätzlichen Lager der zunächst befreundeten Xavier und Magneto zu begleiten. Dabei werden auch viele offene Fragen aus der bereits bestehenden Trilogie beantwortet bzw. bereits Bekanntes vertieft und ausgebaut.

Vaughns Neuauflage besinnt sich damit wieder auf die Stärken der von Brian Singer inszenierten ersten beiden Filme und findet wie dieser eine ausgewogene Mischung zwischen visueller Popcornunterhaltung und inhaltlicher Auseinandersetzung mit sozialpolitischen Brennpunktthemen. In erster Linie geht es um die Hintergründe der unterschiedlichen Bewertung einer möglichen friedlichen Koexistenz zwischen Menschen und Mutanten. Letztlich muss vor allem Charles Xavier für seine Überzeugungen einen hohen Preis bezahlen. Aber wann in der Geschichte war der Friede schon jemals zum Nulltarif zu haben?

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