Ursprünglich mal als „X-Men Origins: Magneto“ angedacht wurde das nächste Spin-Off der Heldensaga gleich zu einem Prequel für mehrere wichtige Charaktere.
Magneto bleibt allerdings die vielleicht wichtigste Figur des Films. Zu Beginn erlebt man noch einmal die Eröffnungssequenz des ersten „X-Men“, in welcher Magnetos Kräfte ausbrechen, als man ihn im KZ von seinen Eltern trennt. An dem damals noch als Erik Lehnsherr bekannten Jungen experimentiert ein Arzt (Kevin Bacon) herum, erschießt Eriks Mutter um dessen Kräfte durch Aggression freizusetzen. „X-Men: First Class“ knüpft an Singers erste „X-Men“-Filme an, setzt die Mutanten mit verfolgten Minderheiten gleich und behält unterhalb der Blockbusteroberfläche genug soziale Tiefenschärfe.
Auf der anderen Seite steht Charles Xavier, ein behüteter Junge aus gutem Hause, der Gedanken lesen kann und eines Abends die junge Gestaltwandlerin Raven bei sich im Haus antrifft – die spätere Mystique. Jawohlja, Professor X und Mystique als Freunde und Adoptivverwandte, das gibt den bisherigen Filmen einen neuen Touch und zeugt vom ambivalenten Bild des „X-Men“-Kosmos, der sich strikten Gut-Böse-Schemata meist verweigert.
Relativ eindeutig böse ist allerdings der KZ-Arzt, der in den 1960ern unter dem Namen Sebastian Shaw auftritt. Erik (Michael Fassbender) jagt seinen ehemaligen Peiniger, unwissend, dass Sebastian selbst ein Mutant ist. Mit anderen seiner Gattung plant dieser einen Dritten Weltkrieg anzuzetteln, die Menschheit sich gegenseitig dezimieren zu lassen und so Platz für die Mutanten zu schaffen. Kaum ein Hintergrund würde da besser passen als der Kalte Krieg mit dem Gleichgewicht des Schreckens, was „X-Men: First Class“ zur Umschreibung der Kuba-Krise benutzt – gerade bei den eingeschnittenen Kennedyaufnahmen spielt Matthew Vaughn charmant mit der Vermischung von Fakt und Fiktion.
Auch die CIA wird auf das Treiben Shaws aufmerksam und sucht Unterstützung bei Charles (James McAvoy), der bereits in jungen Jahren zum Thema Mutationen habilitiert hat. Er offenbart der Behörde seine Fähigkeiten und sucht nach weiteren Mutanten, um gemeinsam gegen Shaw und seine Crew vorzugehen…
„Kick-Ass“ wurde von den Fans geschätzt, machte im Kino aber kaum Kasse – vielleicht gab man Vaughn bei der Realisierung des Prequels nicht ganz das Budget der Vorgänger mit auf den Weg, was man bei einigen Effekten wie der diamantenen Emma Frost (January Jones) merkt. Zum Glück ist Vaughn als Regisseur versiert genug um solche kleinen Makel nicht zu sehr ins Gewicht fallen zu lassen, meist sieht das Spektakel bei „X-Men: First Class“ wirklich top aus, auch wenn zur Referenzklasse eines „Transformers“ noch das letzte Stück fehlt.
Doch es geht hier ja nicht um Action und FX, trotz aller Schauwerte ist „X-Men: First Class“ ein erfreulich figurenzentrierter Blockbuster, wenngleich nicht alle Mitglieder des Ensemblecasts gleich gut bedient werden. Shaw ist als Fanatiker durchaus Wegbereiter für Magnetos Denken, seine Handlanger allerdings pure Erfüllungsgehilfen, während einige Teammitglieder von Charles’ Truppe nur grob umrissen werden, z.B. Havok (Lucas Till) oder Banshee (Caleb Landry Jones). Mehr Aufmerksamkeit bekommt Hank McCoy (Nicholas Hoult), der spätere Beast, dessen tragische Hintergrundgeschichte hier erläutert wird – ausgerechnet der Wunsch nach Normalität resultiert in einem Selbstversuch, der ihn nur noch äußerlich unmenschlicher macht. Das tragische Zerwürfnis der ehemaligen Freunde Charles und Erik ist natürlich Hauptbestandteil des Films, der unter anderem auch zeigt wieso Charles später im Rollstuhl sitzt. Vor allem aber ist es die Geschichte von Raven (Jennifer Lawrence), die am meisten zu begeistern weiß: Sie, die alles sein kann was sie möchte, aber am meisten Probleme damit hat sie selbst zu sein – die selbstbewusst in ihrer blauen Form herumlaufende, selbstbewusste Mystique späterer Filme ist noch nicht zu sehen, stattdessen hadert Raven mit ihrem Erscheinungsbild, versteckt sich hinter ihrer menschlichen Fassade und muss im Verlaufe der Handlung Enttäuschungen wie das Scheitern ihrer Liebe zu einem Teammitglied hinnehmen. Am Ende des Films schließt sie sich Erik alias Magneto an – mit Charles’ Segen, was den Moment nur noch umso ergreifender macht.
Gleichzeitig weißt „X-Men: First Class“ seine zahlreichen dramatischen Elemente ausgesprochen unterhaltsam zu verpacken, auch wenn die Geschichte von der Weltenrettung nicht die originellste sein mag. Doch was macht das schon, wenn der Film nur so von Anspielungen auf die James Bond Filme der 60er steckt, wenn Shaw sein eigene U-Boot-Kommandozentrale hat, oder Emma Frost nicht nur von Namen, sondern auch von den Outfits her an Emma Peel aus „Mit Schirm, Charme und Melone“ und die Feier pubertierender Jungmutanten an die Tanzszene aus „Breakfast Club“ erinnert? „X-Men: First Class“ steckt voller In-Jokes, Wolverine (Hugh Jackman) hat ebenso seinen Cameo wie die spätere Mystique-Verkörperung Rebecca Romjin, und wenn Charles gegen Ende des Films anmerkt „Before I know it I’ll start to get bold“, dann merkt man wie sicher „X-Men: First Class“ Herz, Charme und Witz vereint.
Die Actionszenen sind nie zu sehr von Effekten überladen und meist recht schick anzuschauen, wobei die Attacke Azazels (Jason Flemyng) stark an die Nightcrawler-Szenen aus „X-Men 2“ erinnert (jener ist der „X-Men“-Mythologie zufolge Azazels Sohn, aber filmisch war Singers Werk vorher da). Bei den Actionszenen gehen handgemachte Kampfszenen und Digitaleffekte eine ausgesprochen homogene Mischung ein, gerade im Showdown kann der Film mit dieser Mixtur punkten. Doch die Action wirkt unterstützend in diesem erfreulich intelligenten Blockbuster, der ein wenig das Erbe von „Inglorious Basterds“ weiter trägt: Diverse Passagen des Films sind in der Originalfassung auf Deutsch, Französisch, Russisch etc. und lediglich englisch untertitelt.
Ähnlich grandios wie in Tarantinos Film ist auch Michael Fassbender, der Magnetos verschiedene Facetten, den guten Freund, den eiskalten Rächer und den potentiellen Revolutionsführer, wunderbar auf dem Punkt zu bringen weiß. Ebenso stark ist auch Jennifer Lawrence, während James McAvoy durchaus ordentlich spielt, aber nicht mit den beiden mitzuhalten weiß. Kevin Bacon ist beeindruckend dämonisch, famosen Support gibt es von Rose Byrne, Nicholas Hoult und Oliver Platt, und auch der Rest der Darsteller (u.a. Michael Ironside) überzeugt.
Trotz kleinerer Schönheitsfehler wie teilweise suboptimaler FX oder einigen etwas zu kurz kommenden Nebenfiguren ist „X-Men: First Class“ ein ausgesprochen runder Blockbuster mit Tiefgang und Herz, der seine ernsten Momente immer wieder mit Witz und Ironie aufzulockern weiß und bei aller Unterhaltung auch einen kritischen Blick auf die 1960er wirft, in denen die USA zwar den Zusammenhalt gegen den roten Klassenfeind predigte, innerhalb des Landes sich aber Minderheiten Gewalt und Diskriminierung ausgesetzt sahen – hier sinnbildlich durch die Mutanten vertreten.