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Einen Stummfilm über die Stummfilmzeit zu machen, ist zunächst mal ein Wagnis. Nicht nur deswegen, weil man verdammt gut im Marketing sein muss, um dem heutigen Publikum so etwas Absonderliches schmackhaft zu machen; sondern auch und vor allem, weil die Arthaus-Klientel einem solchen Experiment Selbstzweck und Gimmicklastigkeit anlasten könnte. Wozu das Getue in Schwarzweiß, mit originalgetreuem 1.37:1 und Bildflackern, warum selbst die Gestalt annehmen, die man beschreiben möchte? Das ist die Kernfrage, die darüber entscheiden lässt, ob man in „The Artist“ Blenderei erkennt oder einfach die Liebe zum Medium Film.

Denn Michel Hazanavicius sucht die stilistische Authentizität. Das beginnt bei Jean Dujardin, der dem Clark-Gable-Typus wie aus dem Gesicht geschnitten ist und in Frack gekleidet und schwarzweiß abgefilmt einen Entertainer der späten 20er Jahre ebenso urtümlich spielt wie den Geheimagenten der 60er und 70er Jahre in den „OSS“-Verfilmungen. Es endet bei der unglaublichen Konsequenz, mit der das Programm durchgezogen wird – ein Stummfilm liegt hier fürwahr vor, lediglich unterbrochen für eine poststrukturelle Unterbrechung mit plötzlichen Toneffekten: In einem Alptraum erwacht die akustische Welt um Dujardins Figur George Valentin zum Leben, während er selbst voller Entsetzen feststellen muss, dass er stumm bleibt.

In nur dieser einen Szene werden direkt mehrere Zitate eingesponnen, ohne dafür banale Post-Tarantino-Reflexe in Anspruch nehmen zu müssen: Während Idee und Arrangement des Tagtraums stark an die Traumszene aus Ingmar Bergmans „Wilde Erdbeeren“ erinnert, fühlt man sich bei der Art und Weise, wie die Tonspur als Effekt eingesetzt wird, auf „Blackmail“ gestoßen, Alfred Hitchcocks ersten Tonfilm. Dieser beginnt als Stummfilm, bis mit einem Knall eine neue Ära noch innerhalb eines Filmes Einzug findet. Auf „Blackmail“ wird darüber hinaus später noch einmal in einem Satz angespielt, wenn Peppy Miller (Bérénice Bejo) ihrem Produzenten Al Zimmer (John Goodman) beteuert: „Don’t you understand? I am blackmailing you!“.

„The Artist“ fokussiert sich also auf die große Umbruchsphase Hollywoods zu dessen Glanzzeiten und inszeniert die Traumfabrik postkartengleich als Hort des Glückes und der Tragödie – so, wie sich Hollywood eben auch selbst gerne sieht, weshalb die Oscarnominierungen rückblickend logisch erscheinen. Den Protagonisten geschehen schreckliche Dinge, doch inszeniert sind sie als Filmhandlung, bei denen der Zuschauer zwar kräftig mitfiebern kann, immer jedoch die Distanz der Leinwand zu überbrücken hat. An Einzelschicksalen ist „The Artist“ im Gegensatz zu den thematisch und stilistisch verwandten „Sunset Boulevard“ und „Ed Wood“ nur insofern interessiert, als dass sie der Handlung Dynamik verleihen sollen. Entsprechend unterhaltsam und von erstaunlicher Leichtigkeit geprägt ist das Resultat geworden. Dujardin stellt „nur“ ein wie mit Tusche gezeichnetes Profil zur Verfügung, das der betont einfachen, ja geradezu konservativen Geschichte bzw. ihrem vorgeschriebenen Schicksal folgt wie eine Daumenkinofigur dem Schreibblock – ein Grinsen vom Kinoplakat, ein skeptischer Blick auf die Vorführung eines ersten Tonfilms, dann eine verregnete Nacht im Ohrensessel mit einem Glas Whisky, während sich die Regentropfen auf der blassen Haut des von Veränderungen bedrohten Mannes abzeichnen. Alles Szenenbilder, gemacht wie für einen Kinoaushang (einmal steht Valentin mit hängendem Kopf gar vor einem Kino, dessen Reklame den Titel „Lonely Star“ ankündigt – mehr Screenshotmotiv geht nicht), die in kunstvoller Verkleidung die alte Geschichte von Aufstieg und Fall erzählen sollen.

Wer in diesem Zusammenhang jedoch eine klischeehafte, unoriginelle Geschichte bemängelt oder dem Film vorwirft, er schlachte die Stummfilmästhetik für niedere Zwecke (den Oscar etwa) aus, dem entgeht vielleicht sein besonderer Kniff. Der liegt in der Herausforderung „21. Jahrhundert“ begraben: Setzt man einem Publikum, dem von der Computertechnologie inzwischen fast grenzenlose Freiheit geschenkt wurde, ein Dogma wie den Stummfilm vor - wird es die Möglichkeiten begreifen, die sich hier exklusiv bieten?

Entsprechend ernsthaft behandelt Hazanavicius sein Sujet. Obwohl Ironie (alleine durch Dujardins unvergleichliche Gesichts- und Körpermimik) und das Spiel mit dem Zuschauerwissen stets beibehalten werden, liest sich „The Artist“ parallel durchaus als klassischer und nahtloser Beitrag, der nicht viel anders gedreht ist als ein 90 Jahre alter Film. Das gelingt, indem das Tempo nie heutigen Sehgewohnheiten zuliebe plötzlich abgeändert wird, nur um den Rezipienten mit der Nase auf ein Zitat zu stoßen. Sämtliche Dinge, die es zu erkunden gibt (und das sind genug, um den Film auch noch ein zweites oder drittes Mal zu sehen und immer wieder Neues zu entdecken), werden ganz seiner Interpretation überlassen. So ist es seine Entscheidung, ob er hier mal Fred Astaire, dort William Powell, Errol Flynn oder Douglas Fairbanks entdeckt oder ob er einfach nur mit Spannung (der Spannung des Erwarteten) der Geschichte folgt.

Warum also an neun Jahrzehnte alte Filmgeschichte anknüpfen? Nicht etwa, weil früher alles besser war; vielmehr, weil es früher andere Möglichkeiten gab, sich auszudrücken. Oder wie sollte man den Schlussgag mit der „Päng!“-Schrifttafel in einem modernen Film umsetzen? „The Artist“ umarmt letztlich die Vielfalt der Kunstformen und leistet dadurch, dass er sich selbst als Stummfilm präsentiert, seinen Beitrag für das aktuelle Jahrzehnt. Der meisterhafte „Sunset Boulevard“ bleibt selbstverständlich unerreicht, wenn es darum geht, die Tragik und auch den wirtschaftlichen Umschwung begreiflich zu machen, der Hollywood Anfang der 30er umwehte. Hier bleibt Hazanavicius’ Film holzschnittartig. Aber auch nur, um seine Scheinwerfer auf ein ganz anderes Anliegen zu richten. Somit muss die Frage nicht lauten „Warum ein Stummfilm?“, sondern vielmehr: „Warum denn nicht?“

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