Es gibt wenige Filme die einen schon in den ersten 10 Sekunden für sich einnehmen und diesen sehr guten Eindruck zum Ende hin durchhalten und sogar noch steigern können. Die Buchverfilmung WE NEED TO TALK ABOUT KEVIN gehört absolut dazu und durch die preiswürdige Performance von Tilda Swinton präsentiert sich der Film im Spannungsfeld zwischen Drama und Thriller als einer der stärksten Beiträge in diesem Genre in 2012. Er wirkt am besten, wenn man sich möglichst wenig vorab informiert und deshalb wird hier auch nichts wesentliches vorweggenommen.
Die gestörte Mutter-Kind-Beziehung und die damit verwobene Überforderung und Depression der Mutter bauen sich zu einer verstörenden und später auch schockierenden und intensiv-verstörenden Mischung auf wie ich sie – wenn auch in anderem Zusammenhang - seit MELANCHOLIA oder BEAUTIFUL nicht mehr erlebt habe. Der Film beginnt mit einer Rückblende zu der Tomatenschlacht des La-Tomatina Festivals bei dem Hauptperson Eva sehr gelöst erscheint. Gleichzeitig wird mit der Signalfarbe rot gleich klar gemacht, dass es sich hier nicht um eine harmlose Geschichte handelt.
Zur Geschichte nur kurz folgendes (OHNE SPOILER!): Eine Schwangerschaft beendet Evas (Tilda Swinton) Karriere als Reisebuchautorin. Sie scheint mit ihrem Sohn Kevin (Jasper Newell, später Ezra Miller) völlig überfordert und auch der Junge zeigt auffälliges Verhalten. Vater Franklin (John C. Reilly) kommt gut mit ihm zurecht und Kevin weiß immer, wie er seine neurotische Mutter verstören oder in Angst versetzen kann. Sie stellt sich die Frage inwieweit sie an den Verhältnissen Schuld ist, aber Kevin wird immer verhaltensaufälliger und die Situation scheint zu eskalieren….
Ich bin eigentlich kein großer Freund von verschachtelten und komplexen Rückblenden aber WE NEED TO TALK ABOUT KEVIN meistert es vorzüglich, diese Technik sanft und jederzeit in Bezug auf Zeit und Ort transparent zu übermitteln. Hinzu kommt eine sphärischer Soundtrack von Radiohead der vor allem anfangs und in bestimmten spannenden Szenen mit einem ruhigen, aber dennoch verstörendem Soundgewitter mit wummernden Subsonic Bässen das ungute Gefühl noch verstärkt. Als Kontrapunkt sorgt dann in eigentlich dramatischen Szenen eine Art fideler Country Musik für zusätzliche Irritation.
Der Film setzt sogar Bildverfremdungseffekte ein die zwar nicht nötig, aber für mich dennoch passend erscheinen. Man kann auch formale Mängel finden und diverse Dinge kritisieren, aber diese werden bei weitem von dem positiven Gesamteindruck überstrahlt. Die stärksten Momente sind die langen statischen Einstellungen zwischen Mutter und Sohn als Kleinkind aber auch als Teenager. Beide verstehen es mit geradezu manischen Blicken ihr Seelenleben über den Bildschirm spürbar zu machen.
Der Film gibt keine einfachen Antworten auf die Frage was Ursache und Wirkung ist in der Beziehung von Mutter zum Sohn. Ist es eine posttraumatische Belastungsstörung oder ist der Sohn einfach nur psychisch gestört oder hat ihn die Mutter durch ihr Verhalten in frühkindlichen Phasen dazu gemacht? Auf jeden Fall wühlt der Film auf und zeigt auf grausame Weise wie sensibel Kinder das Verhalten der Eltern aufnehmen und wie hoch die erzieherische Verantwortung von uns allen ist.
8,5/10 Punkten