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ONCE UPON A TIME IN ANATOLIA

Der große Preis der Jury der 64. internationalen Filmfestspiele von Cannes, überreicht von und durch Emir Kosturica, dem Joker des malignen Hirnkinos, ging an Once Upon A Time In Anatolia. Regie: Nuri Bilge Ceylan. Bravo! Güzel! Aferin! Cannes tanzt!

Nun denn, 3, 4 mal übermannte mich die Müdigkeit und ich schlief ein. Doch immer wenn ich erwachte, war nur ich älter geworden, während der Film sich offensichtlich um keinen Zentimeter fortbewegt hatte. Genau darin aber, so dünkte mir schließlich, sollte die eigentliche Stärke eines Kunstwerkes liegen, welches zwar dem Rezipienten die Vergänglichkeit vor Augen führt, ohne jedoch selbst in die Geschehnisse – irgendwie – einzugreifen. Ich möchte sogar soweit gehen, dieses besonders wertvolle Zelluloidgepräge als zusammenhängende Reihe von sagen wir 4 bis 7 Fotos insgesamt zu erachtet, in deren ersten halben Stunde der stillem Betrachtung, ich nenne das mal die Wachphase, welche, selbstverständlich nicht durch Musik oder unrealistische Geräusche manipuliert, bereits die wichtigsten Figuren der Geschichte portraitiert: Nun, da wären ein leitender  Polizeibeamter samt einiger Untergebener, ein Staatsanwalt, ein Arzt und ein mutmaßlicher Mörder sowie dessen Spießgeselle. Mit drei Fahrzeugen ist man in der nächtlichen Provinz unterwegs, um die mutmaßliche Leiche der mutmaßlichen Mörder zu finden, die sich jedoch nicht an die Stelle erinnern können, an der sie das Opfer vergraben haben. Die nächtliche, durchaus malerische Landschaft selber gibt 4 oder 5 Orte ab, die zum Auffinden der Leiche infrage kämen, und weil sie alle zum Verwechseln ähnlich sehen, genügt hier ein Foto, um gleich alle zu schildern. Die nächste Aufnahme führt uns sodann in das Fahrzeug, in dem der Ermittler, der Arzt, der Fahrer, ein weiterer Beamter sowie der mutmaßliche Mörder sitzen. Und sprechen. Na, so dies und das, was 5 Männer zwischen 40 und 50 halt so bewegt, wenn sie des Nachts in der Provinz unterwegs sind. Der Fall selber spielt dabei keine Rolle und so wird auch erfreulicherweise nichts gespoilert. Blättern wir nun vorsichtig im Album weiter und kommen zum dritten Foto, das besagten Konvoi nunmehr in eine bewohnte Ortschaft führt. Noch immer – nur fürs Protokoll -  konnte die mutmaßliche Leiche nicht aufgefunden werden, eben weil sich die mutmaßlichen Mörder (möglicherweise sei Alkohol im Spiel gewesen…) weiterhin nicht an deren Grabesstätte erinnern. Wir befinden uns dafür mittlerweile im Hause eines Dorfvorstehers, bei dem eine Rast eingelegt wird. Zwar wird auch hier von der grundsätzlichen Möglichkeit des Dialogs im Film Gebrauch gemacht, wobei der Regisseur jedoch sorgsam darauf achtet, den expliziten Realismus nicht durch spannungsirritierende, humoristische oder sonstige dramaturgische Eingriffe zu kontaminieren. Dennoch erfahren wir plötzlich, dass der mutmaßliche Mörder mit der Ehefrau des mutmaßlichen Opfers ein sexuelles Verhältnis gehabt haben will. Oha! Starker Tobak, der hier aufgefahren wird und gleichsam zum 4. Bild der Geschichte, einer schonungslosen Großaufnahme des mutmaßlichen Mörders, führt.

Auf Regen folgt Sonnenschein und aufs Dunkel das Hell. So schön kann Kino sein, dass man aufstehen möchte und zum Spiegel laufen, um zu sehen, wie sehr man sich, beziehungsweise die Geschichte einen bereits verändert hat. Es transformierte mich zum Beispiel bis in meine Jugend und mir fiel ein: Zwischen Stuttgart und Cannstadt da steht ein Tunnel, wenn man reinfährt wird’s dunkel, wenn man rausfährt wird’s hell. Verstehen Sie?! Das 5. Foto nämlich führt besagte Mutmaßlichkeit ad absurdum und präsentiert, von einem Hund bereits halb ausgescharrt, zur gesuchten Grube, die tatsächlich einen verschnürten Mann zum Vorschein bringt. Tot, versteht sich. Jetzt gibt der Regisseur Vollgas, die Ereignisse überschlagen sich und lassen im Viertelstundentakt eine wahre Bilderflut auf uns einstürzen: Wir sehen ein Krankenhaus, wohin das Opfer gebracht wird/dann, eine Menschenmenge, die Rache fordert, peng, ein Stein, der den Mörder am Kopf trifft, autsch, eine Leiche, die man obduziert -  und eine (durchaus grauenhafte) Feststellung macht. So, und dann wird es aber auch schon langsam Zeit ins Bett zu gehen. Wie auf Erden, so in Anatolien, löscht man das Licht, sagt Gute Nacht und träumt - von unterhaltsamen Filmen.

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