"Ich träumte letzte Woche ganz seltsam von dir. [...] Du starrst mich an. Und es ist, als ob du mir Böses tun willst. Dann ist dein Gesicht wieder so wie immer. Und du bist wieder du selbst. Du siehst mir immer noch direkt in die Augen. Und dann... Dann fühle ich, daß du kommst. Und als du zwischen meinen Schenkeln kommst, spüre ich, wie dein Sperma in mir hochsteigt, wie es mich ganz ausfüllt und aus meinen Augen heraustropft. Es sind dicke, weiße Tränen, die mir über die Wangen laufen. Meine Lippen sind rot. Und die weißen Tränen fließen über meine Lippen. Ich will sie nicht abwischen. Und ich weine so sehr. Ich kann nicht mehr aufhören."
- - - Madeleine aka "die Jüdin", kurz vor ihrer unfreiwilligen Verwandlung in "die lachende Frau" - - -
Leben, lieben, leiden und sterben im Freudenhaus. Paris, Ende des 19. Jahrhunderts. Ein Tag wie jeder andere im Edelbordell Apollonide, alles nimmt seinen gewohnten Gang. Die Mädchen machen sich schön, die finanziell betuchte Kundschaft trifft ein, man sitzt im großen Aufenthaltsraum beisammen, schlürft Champagner und unterhält sich ungezwungen. Die Freier treffen ihre Wahl, man zieht sich in ein Zimmer zurück, und die Mädchen verrichten ihren Liebesdienst. Die Kundschaft kommt, bezahlt, und verabschiedet sich. Ein Tag wie jeder andere, für die meisten Mädchen. Nicht so für Madeleine (Alice Barnole), der tragischen Heldin dieses optisch atemberaubenden Filmes. Obwohl sie von ihrem Freier (Laurent Lacotte) sonderbar geträumt und ein ungutes Gefühl bei der Sache hat, vertraut sie sich ihm an und läßt sich ans Bett fesseln. Schließlich ist der Kunde König, und es soll alles getan werden, um ihn zufrieden zu stellen. Und dieser spezielle Kunde war bislang immer nett zu ihr.
Josée Deshaies' Kamera beobachtet kühl die routinierten Abläufe und erkundet ruhig und unaufgeregt das riesige Haus der Sünde. Dann zerreißt ein gräßlicher Schrei die Stille. Madeleine windet sich hilflos in ihren Fesseln, ihr Gesicht ist blutüberströmt. Ihr Kunde, der längst das Weite gesucht hat, hat ihr das hübsche Gesicht mit einem Rasiermesser zerschnitten. Sie wird für den Rest ihres Lebens grotesk entstellt bleiben, ihr Mund zu einem ewigen Lächeln erweitert, fast bis zu den Ohren. Es ist ein gezwungenes, verzerrtes Lächeln, denn Madeleines Augen, ihre Augen lachen niemals mit. Unendliche Traurigkeit spiegelt sich in ihnen. Es sind die Szenen mit Madeleine, die das emotionale Herz des Filmes bilden. Die den Zuschauer zutiefst berühren und ihn an ihrem so grausamen wie unabänderlichen Schicksal teilhaben lassen. Bonello und Barnole gelingt es, den Schmerz der Figur für das Publikum spürbar zu machen, ohne die Figur zu sehr ins Zentrum zu rücken. Denn Madeleine ist nur eine von vielen Prostituierten, die im von der ehemaligen Hure Marie-France (Noémie Lvovsky) geführten Apollonide ihre Arbeit verrichten. Da sind zum Beispiel noch Pauline (Iliana Zabeth), mit süßen Sechzehn die Jüngste im Haus. Oder die ausgebrannte Clotilde (Céline Sallette), die ihren Körper schon seit zwölf Jahren verkauft. Oder Julie (Jasmine Trinca), die von einem reichen Stammkunden verwöhnt wird. Oder Samira (Hafsia Herzi), Léa (Adèle Haenel), sowie einige weitere. Träume haben sie alle. Manche werden - vielleicht - irgendwann in Erfüllung gehen, anderen wird das Schicksal einen Strich durch die Rechnung machen. Wie dem Mädchen, welches mit Syphilis angesteckt wird und das elendig daran zugrunde geht.
L'Apollonide (Souvenirs de la maison close) ist ein ungewöhnlicher, irgendwie auch seltsamer Film. Zu allererst einmal ist er toll anzusehen, ein wahrer Augenschmaus. Manche Einstellungen gleichen wunderschönen Gemälden, die man am liebsten ausdrucken und an die Wand hängen möchte. Und die Kostüme der Damen (Korsagen, Mieder, Strümpfe) sind gleichermaßen prächtig wie erotisch. Trotz der Thematik bleibt der Film - obwohl freizügig in Wort und Bild - stets geschmackvoll, geht mit seinen Protagonistinnen immer sehr respektvoll um, ist nur bedingt voyeuristisch und nie ordinär. Wer auf schlüpfrige Exploitation hofft, ist hier definitiv falsch. Inwieweit die Schilderung der Vorgänge in diesem Luxusbordell anno 1899/1900 authentisch ist, ist schwierig zu sagen. Bonello verleiht dem Geschehen jedenfalls einen realistischen Anstrich, da er den Schauplatz weder als eine gefahrlose, heile Welt verklärt, noch die Prostituierten als glückliche Menschen darstellt, die ihre Arbeit mit Freude verrichten. Denn es ist Arbeit, harte Arbeit, von den meisten nur angenommen, um ihre Schulden zu tilgen. Sie selbst sind die Ware, die zum Verkauf steht. Die Männer kaufen die Ware, benutzen sie, leben ihre Obsessionen an ihnen aus, und geben sie anschließend wieder zurück. Davor und danach ist sorgfältiges Waschen angesagt, muß die Ware doch stets sauber sein, duften, und wie neu aussehen. Ein mehrmals am Nachmittag bzw. in der Nacht stattfindender Vorgang, der beinahe rituell erledigt wird.
Da fast der gesamte Film im Bordell spielt (mit Ausnahme einer Szene in idyllischer Natur inklusive Nacktbaden in einem See sowie einer Sequenz, die einen Bogen in die Gegenwart spannt und einen unheimlich starken Kontrast zum restlichen Geschehen bildet), entsteht eine dichte, fast schon klaustrophobische Stimmung des Eingesperrtseins und der Ausweglosigkeit, der jedoch ob der opulenten Ausstattung und der interessanten Musikauswahl (z. B. werden Musikstücke gespielt, die erst viel später komponiert wurden) etwas traum- und märchenhaftes anhaftet. Über allem schwebt dann noch ein Hauch von Melancholie und Poesie, was den Umstand fast vergessen macht, daß der detailverliebte Film an sich erstaunlich spannungslos, undramatisch und zurückhaltend inszeniert ist. Sogar die Sequenz, in der eine schwarze Pantherkatze für etwas Gerechtigkeit sorgt, ist so beiläufig wie unspektakulär in Szene gesetzt, daß glatt die Gefahr besteht, daß wenig aufmerksame Zuseher das Ereignis gar nicht mitbekommen.
L'Apollonide (Souvenirs de la maison close) ist ein exquisites, schmerzhaftes und doch recht zugängliches Kunstwerk, das seinen Protagonistinnen viel Sympathie entgegenbringt und sie niemals zum Zwecke der Unterhaltung ausbeutet. Ein starker Film mit vielen starken Frauen und zahllosen starken Bildern. Die Spermatränen vergießende Madeleine ist nur eines davon. Eines jedoch, das so schnell nicht verblassen wird.