Was ist groß?
Ich sah etwas, doch weiß ich nicht, was es war. Äußerlich sich lethargisch in schlafwandlerischem Tempo übend und im Trancezustand, begleitet von den anspruchsvoll-lässigen Klängen des Wu-Tang-Clan-Rappers RZA, eine meditative Bildpoesie abfeiernd, die jede Szene mit der Sanftheit des zähen Wimpernschlages ausblendet, der einen vom Wachzustand in den Schlaf gleiten lässt. Strukturell geformt wie ein Profikillerportrait mit profund beleuchtetem Tragikheld, das mit philosophischen Weisheiten angereichert wurde. Was ist groß? Die Ungewöhnlichkeit der Heldenfigur, des killenden, lesenden, Brieftauben züchtenden, afroamerikanischen Samurais? Ganz gewiss hat man so einen wie Ghost Dog (Forest Whitaker) noch nicht gesehen, einen, der auf dem Dach haust mit den Tauben, den symbolischen.
Auf einem Dach mit Brieftauben in einer WG zu leben, bedeutet, die Freiheit zu atmen, über den Dingen zu stehen, ungebunden und losgelöst zu sein wie die edlen Tauben, die der Schwerkraft zu trotzen imstande sind. Ghost Dog ist schon sonderbar, aber nicht befremdlich. Ghost Dog ist Ghost Dog - unsichtbar wie ein Geist, treu wie ein Hund. Unsichtbar, weil er ein Meister seines Faches ist, fähig, einem die Brust schallgedämpft zu durchlöchern, ohne dass man es selbst überhaupt wahrnehmen würde, wenn da nur nicht der physische Schmerz wäre, den das Erschossenwerden wohl mit sich bringt. Und treu, weil er sich uneingeschränkt in den Dienst von Louie, dem Mitglied eines italo-amerikanischen Mafiaclans, stellt. Louie hatte Ghost Dog einst, als dieser noch kein Geisterhund war, vor prügelnden Weißen gerettet. Seitdem definiert sich die Titelgestalt als der Gefolgsmann von Louie, der jeden Auftrag erfüllt, absolut professionell, und dafür einmal jährlich am ersten Herbsttag ein Honorar erhält.
Ist dies groß? Diese unerschütterliche Loyalität, diese bedingungslose Ergebenheit? Ghost Dog gibt ein Stück seiner Unabhängigkeit auf - für einen Mafioso. Er ist eigentlich ein Phänomen des Widersinns. Sucht die Freiheit auf dem Dach und ist doch nicht sein eigener Herr, sondern der freiwillige Untertan eines Kriminellen. Er ist der Apologet der Normen und Werte und zugleich ausdrucksloser Auftragskiller. Welch eine Moral. Und er ist dennoch ein stiller, klassisch gesetzeswidriger, ehrenhafter Held, bei dem das Heroische nicht nach außen tritt; der Naturfreund, der den Specht beobachtet (durch das Zielfernrohr seines Scharfenschützengewehres); der Moralist, der nur die teuersten Autos klaut, der Wilderer über den Haufen schießt, der niemanden tötet, der es nach seiner Weltanschauung nicht auch verdient hätte.
Was ist groß? Wenn sich alte japanische Mentalität mit kontemporärer verbindet, Ehrenkodex und Rap nebeneinander existieren, ohne sich abzustoßen? Kryptische Sätze kontinuierlich aus einer missionarischen Samurai-Fibel zitiert werden, klug klingen, aber in ihrer ganzen Tragweite unmöglich zu erfassen sind? Wenn sich Mafiosi "Felix the Cat", "Itchy & Scratchy" oder "Woody Woodpecker" (den nervenden Specht) anschauen und zu Public Enemy tanzen und singen? Wenn das Abflussrohr des Waschbeckens für einen Mord missbraucht wird? Was ist groß? Die Freundschaft zwischen Ghost Dog und einem Eisverkäufer, die Freundschaft zwischen zwei Menschen, die unterschiedliche Sprachen sprechen und sich doch verstehen, weil sie auf wundersame wie witzige Weise dieselben Gedanken teilen?
Was ist groß? Für einige ist es Ehrlichkeit, für andere die Erfindung der elektrischen Zahnbürste. Aporie wird man solch eine Problemstellung wohl nennen. Und Anmaßung den Versuch, Größe formelhaft definieren zu wollen. Denn das Große lässt sich nicht beschreiben, es wird empfunden; und freilich individuell und einzigartig ist jede Empfindung. Folglich vermag selbst das mit Makeln Behaftete, das nichts wirklich Außergewöhnliches zu erzählen hat und offen lässt, welche Erkenntnis neben all der mentalen Samurai-Verehrung überhaupt aus ihm zu gewinnen sei, durchaus groß zu sein. Und würde ich nun schließlich gefragt werden, was Jim Jarmuschs "Ghost Dog" denn letztlich sei, so würde ich getreu meiner Empfindung wohl antworten: etwas Großes.