Review

In der Menschheitsgeschichte reichen Hinweise auf Kannibalismus bis in die Altsteinzeit zurück, die betagtesten Knochenfunde, die auf arteninternes Verspreisen hindeuten, sind knapp 800.000 Jahre alt, Reste von zertrümmerten Schädeln gelten zum Beispiel in diversen Fachkreisen als Indiz für eine eventuell stattgefundene Gehirnentnahme. Später wurde der rituelle Verzehr von Menschenfleisch in unterschiedlichsten Kulturen ausgeübt und ist von diversen Mythen begleitet worden, ein alter Aberglaube besagte beispielsweise, dass die Stärke eines erlegten Feindes durch dessen Überrestevertilgung aufgenommen werden kann. Von dieser These ließ sich auch Drehbuchautor Ted Griffin für sein Skript zum 1999 realisierten Kannibalen-Horror-Western "Ravenous - Friss oder stirb" inspirieren und liefert mit seinem etwas skurrilen Plot die Vorlage zu einer kleinen verscholenen Filmperle, der aus meiner Sicht die verdiente Anerkennung bisher noch nicht ausreichend zu Teil wurde.

Zeitlich schreibt der Film das Jahr 1847. Im Winter des amerikanisch-mexikanischen Krieges wird US Lieutenant John Boyd (Guy Pearce) in ein abgelegenes Fort nahe der Sierra Nevada wegen "unrühmlicher" Heldentaten strafversetzt. Nach kurzer Zeit sucht ein fast erfrorener Fremder, der sich als F. W. Colqhoun (Robert Carlyle) ausgibt, unterschlupf und berichtet von seiner verschollenen Reisegruppe, die in ihrem Überlebenskampf dem Kanniballismus intern verfiel um nicht zu  verhungern. Boyd schließt sich dem von Colqhoun selbst begleiteten Rettungstrupp an, doch die Geschichte entpuppt sich als Falle, denn der Hilfesuchende ist in Wahrheit ein skrupelloser Menschenfresser, der alle tötet, nur Boyd kann, nach dem er vor seinem drohenden Tod selbst kannibalistisch tätig wurde, entkommen und zum Fort zurückkehren. Natürlich glaubt niemand Boyds Ausführungen und als der neu entsandte Kommandand Colonel Ives (ebenf. Robert Carlyle) urplötzlich auftaucht, erkennt nur Boyd die Gefahr, die von Ives ausgeht, da er in ihm den Kannibalen, der nach weiterer energiespendender artgenössischer Nahrung giert, wieder erkennt. Ein gnadenloser Kampf auf Leben und Tod beginnt... 

In der Not frisst der Teufel bekanntlich Fliegen und der Selbsterhaltungstrieb ist der natürlichste Instinkt eines jeden Lebewesens, wie würde man dem Tod ins Auge blickend persönlich reagieren, wenn es nur noch diesen einen grenzüberschreitenden Ausweg gibt? Ähnlich wie in Frank Marshalls Drama Überleben aus dem Jahr 1993 wird die moralisch schwierige Grundsatzfrage bewusst ohne Antworten zu liefern thematisiert, den die muss jeder Zuschauer mit sich selbst ausmachen. Ravenous - Friss oder Stirb geht aber mit dem weitaus prikäreren Genussverzehr menschlicher Anatomie nochmal einen entscheidenden Schritt weiter in Richtung Tabubruch, denn gerade durch die unterschiedliche Einstellung der beiden Hauptprotagonisten zu diesen Punkten wird der Film erst so so richtig interessant. Regisseurin Antonia Bird inszeniert zwischen den beiden Kontrahenten ein hochspannendes, bizarres Psychoduell mit für diese Art Unterhaltung ungewöhnlich anspruchsvollen, ausgiebigen Dialogen sowie brutalen, einwandfrei visualisierten, aber nie überzogen wirkenden Gorespitzen. 

Ja, die technische Realisierung kann sich wirklich sehen lassen, obwohl der eigentliche Regisseur Milcho Manchevski 2 Wochen nach Produktionbeginn entlassen wurde und Antonia Bird das Zepter erst später übernahm. Bird versteht es ausgezeichnet, dass fürs Kannibalengenre etwas exotisch anmutende Westernsetting mit einer optisch gefälligen Bildgewalt und den beeindruckenden Landschaftsaufnahmen einzufangen. Tempo, Dynamik und eine Prise schwarzer Humor varriert sie größtenteils angemessen, als störend empfundene Handlungslängen sind wenn überhaupt nur marginal zu verzeichnen. Darüber hinaus gelingt ihr es vorzüglich, den hervorragend agierenden Schauspielern genügend Raum zur Entfaltung zu geben. Exemplarisch erwähnt verdient Guy Pierces Darbietung des von seiner Doppelmoral geplagten Antihelden höchste Anerkennung, denn das Publikum weiß bis zum Schluss nicht, ob es dessen handeln jetzt missbilligen, bzw. für gut erachten soll, was seiner lobenswerten Peformance in hohem Maße anzurechnen ist. Ebenso brillant wie respektabel füllt Robert Carlyle seine zwiespältige Doppelrolle als F. W. Colqhoun / Colonel Yves aus, der die lustvolle, gewissenlose Besessenheit vom Kannibalismus seines Charakters excellent auf die Leinwand zu verbringen mag.

Ein weiteres positives Ausrufezeichen setzt der kampferprobte Frontsoldat Prvt. Reich, der von Neal McDonough mit gebleichten Haaren charismatisch und erinnerungswürdig verkörpert wird, obgleich die Screentime auf Grund seines relativ frühen Ablebens spürbar begrenzt ist, wenn er als wohl schmeckender, rettender Überlebenssnack für den geschwächten Boyd herhalten darf. Weniger überwältigend hingegen habe ich den Auftritt von Jeffrey Jones als weiteres Fortmitglied Colonel Hart wahrgenommen. Dies ist aber nicht unbedingt dessen Schauspiel geschuldet, sondern liegt eher am partiell konfus wirkenden Sinneswandel seiner Filmrolle, welche ihre Sichtweise zum Thema Menschenfleischverzehr abrupt und ohne Nachvollziehbarkeit ändert, was neben minimalen, unwesentlichen Stockungen im Erzählfluss auch als geringfügige Schwäche des ansonsten absolut überzeugenden Streifens gewertet werden kann. 

An den Theaterkassen scheiterte der 12 Millionen teure Ravenous - Friss oder Stirb mit seinem gerade mal auf 2 Millionen Dollar befindlichen Einspielergebnis kläglich, während die Fachpresse mit durchwachsenem Echo reagierte. Mag sein, dass die Thematik an sich nicht unbedingt ganz massentauglich ist und das Endergebnis für eine kommerzielle Kinoauswertung streckenweise vielleicht doch ein kleines bisschen zu brutal wirkt. Ich persönlich bin jedenfalls Antonia Birds Einladung auf ein blutiges, intelligentes und spannendes Filmbuffet gerne nachgekommen und ihre etwas andere, erstaunlich vielseitige Genrekombination aus Western und Kannibalenfilm hat mir bis auf ein paar kleine, unerhebliche Mängel auch vorzüglich geschmeckt. Das Diner ist serviert, buon appetito, 9 von 10 Punkte. 

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