„Es macht einsam, Kannibale zu sein!“
Die 2013 viel zu früh verstorbene britische Regisseurin Antonia Bird, die neben einigen TV-Serien-Beiträgen und vielen Dramen, zum Teil ebenfalls fürs Fernsehen, 1995 „Mad Love - Volle Leidenschaft“ mit Drew Barrymore gedreht hatte, lieferte im Jahre 1999 überraschend einen Horrorfilm zum Thema Kannibalismus ab, der indes einen gänzlich anderen Ansatz als die italienischen Kollegen einige Jahrzehnte zuvor verfolgt:
Im Jahre 1847 tobt der Krieg der USA gegen Mexico und Kriegsheld wider Willen Captain John Boyd (Guy Pearce, „L.A. Confidential - Jeder hat seinen Preis“) wird in das verschlafene kalifornische Fort Spencer versetzt. Der Grund: Er hat ein Kriegstrauma erlitten und kann kein Blut mehr sehen. Im Fort Spencer ist er einer von nicht einmal zwei Handvoll Soldaten, die mit all ihren Macken und Wehwehchen eine wahre Gurkentruppe darstellen. Eines Winternachts liest man den halberfrorenen und verletzten Schotten Colqhoun (Robert Carlyle, „Trainspotting“) auf, der, nachdem man ihn wieder aufgepäppelt hat, eine ebenso abenteuerliche wie abscheuliche Geschichte auftischt: Ungefähr zwei Tagesmärsche entfernt sah sich eine Gruppe Siedler gezwungen, in einer Höhle zu überwintern. Als die Nahrungsmittel ausgingen, habe man zunächst die Tiere verspeist und sich schließlich gegenseitig aufzuessen begonnen! Als nur noch Colqhoun und eine Frau übrig waren, enteilte Colqhoun, um Hilfe zu holen. Die Warnungen des Indianer-Scouts George (Joseph Runningfox, „Die Blutrache des Geronimo“) schießt man in den Wind und zieht unter Führung Colqhouns los, um die Höhle zu finden und evtl. der verbliebenen Frau helfen zu können. Doch als einer der Soldaten unterwegs verunglückt und eine blutige Bauchwunde davonträgt, macht sich Colqhoun an ihr zu schaffen. Daraufhin hält man es für besser, Colqhoun zu fesseln und begibt sich weiter gen Ort des Schreckens, wo sich die Ereignisse überschlagen – und sich Colqhoun als waschechter Kannibale entpuppt…
Sicherlich ist es ungewöhnlich, dass ausgerechnet eine regieführende Frau das Kannibalismus-Sujet aufgreift und dann auch noch in ein Western-Ambiente einbettet. Doch auch, wenn man diesen Umstand ausklammert, bleibt „Ravenous - Friss oder stirb“ ein recht erfrischender Genre-Beitrag. Die Vorstellung der Fort-Bewohner nach Boyds Versetzung verläuft komödiantisch, begleitet von diversen Rückblenden zu einer blutigen Schlacht, die Boyd traumatisierte. Colqhouns Schauergeschichte wird entsprechend visualisiert und zunächst hat alles den Anschein eines durch die Notsituation bedingten Kannibalismus, den man Colqhoun schwerlich zum Vorwurf machen könne. Als dieser nachts eine Wunde ableckt, beginnt sich jedoch zu bestätigen, was man in bester Genre-Manier bereits unterschwellig ahnte: Er hegt auch weiterhin kannibalistische Ambitionen. So stellt sich dann auch die mit ausgeweideten Skeletten grafisch makaber ausgestattete Höhle als Falle Colqhouns heraus, die alle bis auf Boyd – und eben den mittlerweile irre Grimassen ziehenden Colqhoun – das Leben kostet. Und siehe da: Das war lediglich das erste Drittel des Films, sozusagen sein Exposé.
Als Kurzfilm hätte „Ravenous“ damit bereits für offene Münder und Szenenapplaus gesorgt. Aber Drehbuchautor Ted Griffin und Bird wollen mehr: Boyds Sprung von der Klippe mit anschließender Abfahrt durch den Wald wurde virtuos gefilmt. Zu allem Überfluss hat der Gute sich ein Bein gebrochen und findet sich zwecks Übernachtung in einem Erdloch wieder – also in einer nicht ganz unähnlichen Situation derer, die Colqhoun so blumig geschildert hatte. Konsequenterweise verläuft diese dann auch ebenso und Boyd muss sich über den toten Private Reich (Neal McDonough, „Minority Report“) hermachen – ausgerechnet er, der Fleischgenuss bislang so verabscheut hatte. Colqhoun wiederum hat’s nun auch zum Militär verschlagen, wo er es unter falschem Namen zu einem gewissen Ansehen gebracht hat. Was einer Fortsetzung zur Ehre gereicht hätte, avanciert hier zur zweiten Zeit- und Handlungsebene, die jedoch etwas schwächer als das erste Filmdrittel ausfällt.
Natürlich kommt es zu einem erneuten Aufeinandertreffen Boyds und Colqhouns, während parallel Boyd von neu entdecktem Appetit auf Menschenfleisch geplagt wird, was in Visionen mündet, wie er Private Cleaves (David Arquette, „Bad Boys Never Die“) tötet und roh verspeist. Leider wird’s ab einem gewissen Punkt reichlich absurd: Nachdem Cleaves und die Pferde dran glauben mussten, taucht der Major plötzlich wieder auf, der nun auch dem Kannibalismus frönt und mit Colqhoun zusammenarbeitet. Das wird dann doch irgendwann zu viel der „Überraschungen“. Wertfrei möchte ich betrachten, dass „Ravenous“ suggeriert, Kannibalismus stärke den eigenen Körper und heile Wunden. Das ist natürlich einerseits Blödsinn, andererseits hätte man weit mehr aus dieser Prämisse machen können. So dient sie in erster Linie als Begründung für die scheinbar übermenschlichen Fähigkeiten der Menschenfresser, die am Ende genug Kraft für einen ausgedehnten Showdown zwischen Boyd und Colqhoun haben.
Als professionelle „20th Century Fox“-Produktion verfügten Bird & Co. über ein ordentliches Budget, das man dem Film auch ansieht, der sich mit seinen guten bis sehr guten Schauspielern und seinem atmosphärischen Hochglanz-Landschaftsambiente jedoch keineswegs an den Mainstream anbiedert. Dies verhindern allein schon das blutige Gehäcksel und Gesplattere, das selten zum Selbstzweck verkommt, sondern wohldosiert den Genre-Fan befriedigt und ein ungeeichtes Publikum erschrecken dürfte. Der schwarze Humor, der den Film durchzieht, ist deftig, schafft jedoch auch eine gewisse Distanz zum Gezeigten, trifft dabei auch nicht immer meinen Nerv. Die ungewöhnliche musikalische Untermalung wiederum ist ein schönes Alleinstellungsmerkmal des Films. Alles in allem eine aus der Genre-Masse in vielerlei Hinsicht herausstechende interessante und unterhaltsame Variation des Kannibalismus-Themas, die man als Horror-Film-Freund gesehen haben sollte.