Review

„Ich hasse Mittelmäßigkeit!“

Der als leichtfüßiges Drama inszenierte Coming-of-age-Film „Herzflimmern“ des der Nouvelle Vague nahestehenden französischen Filmemachers Louis Malle („Fahrstuhl zum Schafott“) aus dem Jahre 1971 sorgte bei seinem Erscheinen für einen Skandal, da er den Inzest zwischen einer jungen Mutter und ihrem heranwachsenden Sohn thematisiert, ohne ihn moralisch zu verurteilen. Doch es geht um viel mehr:

Dijon im Jahre 1954: Laurent (Benoît Ferreux, „Das Ritual“), Sohn des konservativen französischen Gynäkologen Charles Chevalier (Daniel Gélin, „Der Mann, der zuviel wusste“) und der attraktiven, lebenslustigen jungen Mutter Clara (Lea Massari, „Die abgetrennte Hand“) lebt mit beiden sowie zwei älteren Brüdern und der rigorosen, temperamentvollen Haushälterin Augusta (Ave Ninchi) unter einem Dach. Hauptbezugsperson ist seine Mutter, die ein besonders inniges Verhältnis zu ihrem Jüngsten pflegt. Zusammen mit seinen Brüdern entdeckt der jazzbegeisterte Laurent die Welt der Erwachsenen, konsumiert Alkohol und macht erste sexuelle Erfahrungen, verliert seine Jungfräulichkeit bei einer Prostituierten (Gila von Weitershausen, „Blutiger Freitag“). Als er mit den Pfadfindern auf Exkursion fährt, wird der titelgebende Herzfehler bei ihm diagnostiziert, woraufhin er sich zusammen mit seiner Mutter auf Kur begibt. Im Kurhotel spitzt sich die Beziehung beider schließlich zu…

„Krieg ist eine viel zu ernste Sache, die kann man unmöglich den Militärs überlassen!“

Über weite Strecken porträtiert Malle zu einem aufgeregt dudelnden Jazz-Soundtrack humorvoll das Aufwachsen des pubertierenden Laurents, der Grenzen austestet und übertritt, auch schon einmal einen Ladendiebstahl begeht, nach sexuellen Erfahrungen dürstet und sich mit seine Brüdern balgt. All dies geschieht vor dem Hintergrund eines Kriegs, in dem sich Frankreich befindet und dazu beiträgt, dass die Jugendlichen sich politisch interessiert zeigen und am Esstisch diskutieren. Laurent ist Messdiener, beichtet beim Pater (Michael Lonsdale, „Der Name der Rose“), welcher das Gespräch in Richtung Onanie drängt und Laurent droht, Gott werde sich von ihm abwenden, dabei jedoch offensichtlich pädophiles oder homosexuelles Interesse an Laurent hegt. In der Kirche soll schließlich für „Kriegshelden“ gebetet werden. Mutter Clara wiederum unterhält eine Affäre mit einem jüngeren Mann, was ihr Ehemann entweder nicht weiß oder stillschweigend hinnimmt. „Herzflimmern“ verteilt also reichlich Seitenhiebe gegen eine vermeintlich heile Welt, unter deren Oberfläche es kräftig brodelt.

„Entweder, oder: Zigarre oder Frauen! Beides geht nicht!“

So entsteht ein interessantes Zeit- und Sittengemälde, denn die drei Brüder zeigen sich von der Spießigkeit ihres Vaters, den sie offenbar wenig ernstnehmen, ebenso unbeeindruckt wie von staatlicher Politik und Klerikus und veranstalten eine Party, sobald die Eltern aus dem Haus sind, spielen ihnen Streiche, vergleichen ihre Geschlechtsteile und suchen Bars und Bordelle auf. Die älteren Brüder machen sich gar einen Spaß daraus, Laurent bei seinem ersten Mal mit einer Prostituierten zu stören. Von der vielzitierten Bravheit der 1950er auch kurz vor Ausbruch des Rock’n’Roll-Fiebers demnach keine Spur, auch nicht in jener bourgeoisen Familie, was Malle in angenehmer Unaufgeregtheit und ohne jeden Moralismus, dafür mit viel auch mal deftigerem Humor genüsslich skizziert.

„Jazz ist was zum Anhören, aber nicht zum Tanzen!“

Auf der Kur präzisiert sich Laurents Beziehung zu seiner Mutter nicht für den Zuschauer, sondern auch für beide Beteiligten. Auf der Suche nach sexuellen Abenteuern stellt Laurent zwar dem einen oder anderen Mädchen nach, empfindet aber auch starke Eifersucht, wenn seine Mutter von anderen angesprochen wird oder sich mit ihrer Bettaffäre trifft. Er beobachtet sie beim Baden, äußert sich abfällig gegenüber ihren Männerbekanntschaften etc. und als er sie in angetrunkenem Zustand nach einem gemeinsamen Partybesuch zurück ins Hotel bringt und beide schließlich engumschlungen und kuschelnd im Bett liegen, passiert es und sie haben Geschlechtsverkehr. Malle deutet dies jedoch lediglich an, statt es in irgendeiner Form auszuschlachten. Ebenso wenig bewertet der Film den Vorfall, der von Laurents Mutter als einmaliger Akt beschrieben wird, der mahnende Zeigefinger bleibt aus. Am nächsten Morgen redet Clara mit ihrem Sohn darüber und es scheint alles in Ordnung zu sein, es gibt keine Schuldgefühle. Als wolle die Handlung beweisen, dass es der sexuellen Entwicklung Laurents nicht geschadet habe, lässt sie ihn auch noch bei Daphne, einer jungen Dame seiner Altersklasse, im Bett landen.

Obwohl sich dann doch hier und da ein paar Längen eingeschlichen haben, schafft es „Herzflimmern“, über die volle Länge interessant zu bleiben, was nicht zuletzt an seiner erfrischenden Frechheit und den herausragenden schauspielerischen Leistungen liegt. Lea Massari, die mit italienischem Akzent spricht, ist in der Tat ein echter Hingucker, der nur schwerlich zu seinem Ehemann passen will, doch Gegensätze sollen sich ja anziehen. Nackte Tatsachen bekommt man im Prinzip lediglich in Form der Oberweite der Prostituierten zu sehen und so sehr es Laurent um eigene sexuelle Aktivitäten geht, so wenig geht es dem Film um Zurschaustellung derselben. Was er mit seiner Mutter erlebt, hat dann auch weniger mit Sex als vielmehr mit Liebe zu tun – nichtsdestotrotz, gerade deshalb oder wie auch immer ist das natürlich der Knackpunkt; zumal Malle am Ende suggeriert, dass alles in Ordnung wäre, jedes einzelne Familienmitglied glücklich, alle vergnügt miteinander lachen. Malle ignoriert sämtliche möglichen negativen psychischen Folgen, war aber auch stets darauf bedacht, den hier vollzogenen Inzest nicht als Missbrauch, sondern als einvernehmliche, spontane, natürliche Entscheidung in einer Ausnahmesituation darzustellen. Durch den glaubwürdigen, differenzierten und ambivalenten Aufbau seiner Rollen ist man geneigt, „Herzflimmern“ dies abzunehmen. Wie es in der Realität aussähe, steht jedoch auf einem anderen Blatt, wobei ich nicht komplett ausschließen möchte, dass etwas Derartiges tatsächlich auch ohne Folgen stattfinden kann, nicht zwangsläufig ein Missbrauch Ursache und ein psychischer Defekt die Folge sein müssen. Ich empfinde „Herzflimmern“ als ein zeitgemäß provokantes und Voyeure bewusst unbefriedigt zurücklassendes Plädoyer für allgemeine sexuelle Freizügigkeit zu Zeiten der sexuellen Revolution und der Enttabuisierung des Kinos. Ich erlaube mir aber, die Frage in den Raum zu werfen, ob der Film heutzutage einen ähnlich guten Leumund hätte, hätte in ihm ein junger Vater mit seiner pubertierenden Tochter Sex gehabt – womit sich auch die Frage nach letztlich sexistischen Geschlechterrollenklischees ergibt, weniger in Bezug auf den Film als mehr auf sein ihm zugeneigtes Publikum.

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