Mut zur Abstraktion - eine surreale Liebesgeschichte
Während Paul Thomas Anderson 1999 mit "magnolia" dem ersten vollständigen Film-Jahrhundert mit einem unfassbaren Meisterwerk einen würdigen Abschluss setzte, hat er nun mit seinem vierten Streifen "Punch-Drunk Love" den ersten ganz großen filmischen Geniestreich des der 21. Dekade gelandet.
Ähnlich wie schon über "magnolia", ist es auch über diesen neuen Film äußerst schwer - wenn nicht unmöglich -, etwas Angemessenes in Worte zu fassen. Daher zunächst einige bloße Fakten, die als Voraussetzung für den Filmgenuss recht sinnvoll erscheinen.
Zum ersten möge sich bitte niemand durch die Besetzung der Hauptrolle mit Adam Sandler irritieren lassen. Sicherlich verwundert diese Maßnahme im ersten Moment; es sei jedoch angemerkt, dass Anderson die Rolle einzig für Sandler geschrieben hat, und zwar, so erzählt er es jedem, der nachfragt, weil er ihn als Comedian liebe und seine "wahren" Charakter, seine tief sitzende Verletzlichkeit ergründen wolle. Einem reinen Anhänger der bislang bekannten, auf puren Unterhaltungswert begrenzten Slapstick-Einlagen Adam Sandlers ist von der Sichtung von "Punch-Drunk Love" daher dringend abzuraten. Im Übrigen dürfte die jüngst bekannt gegebene Nominierung Sandlers als ’Best Actor In A Musical/Comedy’ einiges aussagen.
Dies leitet weiter zur zweiten Problematik dieses Films: In den USA wurde "Punch-Drunk Love" von Kritikern der Stempel ’romantic comedy’ verpasst. So sehr es natürlich richtig ist, dass der Film sowohl romantische wie auch (wenige) komödiantische Elemente enthält, so unglaublich leer erscheint diese Genrebezeichnung im Verhältnis zu der unendlichen Komplexität und Schönheit von "Punch-Drunk Love".
Außerdem hat "Punch-Drunk Love" nur die halbe Spielfilmlänge seines Vorgängers, nämlich etwas über 90 Minuten. Doch ebenso wie bei "magnolia" die extreme Überlänge, so folgt nun die Komprimierung auf 1 1/2 Stunden einer zwingenden Notwendigkeit. (Übrigens treffen sich beide Filme meiner Ansicht nach bei einer "gefühlten Zeit" von etwa 2 Stunden.)
Dies vorausgesetzt, dürfte jedem Fan Paul Thomas Andersons der Gang in das Lichtspieltheater seiner Wahl nicht mehr schwer fallen.
Für alle, die nun noch nicht wissen, was sie erwartet, hier der Versuch einer kurzen Beschreibung der schier unermesslichen Qualitäten von Andersons Kino generell und seinem neuen Werk ganz speziell:
"Punch-Drunk Love" ist eine Ode an das Leben. Denn Leben besteht aus Liebe und Hass – aus Zuneigung und Gewalt. Barry Egan (Adam Sandler) ist somit der Prototyp eines Menschen, der zwischen diesen Extremen hin und her gerissen ist. Seiner romantischen, lieben und vor allem liebesbedürftigen Seite, seinem wahren Kern, steht ein durch eine schlimme Vergangenheit bedingter Hang zu plötzlichen, unkontrollierten Gewaltausbrüchen gegenüber. Eigentlich ist er in diesem fundamentalen Kampf der Leidenschaften ausichtslos gefangen. Doch es gibt Hoffnung in dieser Welt. Das Schicksal gibt Barry eine Chance. Es stellt ihm Lena Leonard (Emily Watson) an die Seite; eine Frau, deren Herkunft und Vergangenheit völlig ungeklärt ist, die nur ein Ziel, eine Berechtigung, einen Grund zu haben scheint: Ihr Dasein ist die Hoffnung auf Rettung für Barry. Nur gemeinsam können die beiden es schaffen, nur ihre Liebe kann die Kette von Hass, Gewalt und Ungerechtigkeit in dieser komischen und schlechten Welt durchbrechen.
Adam Sandler verleiht Barry Egan eine unbestimmbare und dennoch stets fühlbare universelle Ambivalenz, die den Zuschauer in jedem Moment mitreißt. Für Sandler ist diese Rolle eine Sensation, es ist die erste und denkbar beste Möglichkeit, endlich sein ganzes Können aufbieten zu dürfen. Emily Watson bildet dafür den perfekten Gegenpart. Auf der einen Seite könnten sie und ihre Figur kaum verschiedener als Barry sein, doch die verborgenden Gemeinsamkeiten spiegeln sich unumstößlich zwischen jeder Zeile (bzw. Bild). Watson stattet Lena mit einer geheimnisvollen Aura aus, die den wahren Zauber dieser Figur ausmacht. In großartigen Nebenrollen sind zudem die aus früheren Filmen Andersons bekannten Mimen Luis Guzmán und Philip Seymour Hoffman zu sehen, wobei insbesondere letzterer einmal mehr über sich hinauswächst.
Hervorzuheben ist überdies wieder einmal die phantastische Kamera Robert Elswits, der zum vierten Mal die Bilder für Anderson kreierte. Seine Photographie löst sich weiterhin von allen Fesseln konventioneller Schemata und ist in ihrer bekennenden Künstlichkeit und kunstvollen Schönheit über alle Zweifel erhaben.
Auch Jon Brion, der bereits die überdimensionale Score für "magnolia" komponierte, erreicht ein neues musikalisches Level. Aus undefinierbaren Percussions, abgehobenen Tönen manipulierter Instrumente, aber auch klassischen Filmmusik-Elementen setzt er einen faszinierenden Klangteppich zusammen, der beinahe jede Szene hervorragend untermalt.
Und über allem die abermals formidable Regie Paul Thomas Andersons, der seinen wahrhaft bewundernswerten Mut zur Abstraktion nochmals überbietet. Bereits das Drehbuch ist von einer wunderbar zweideutigen Sprache und frischen Originalität, die nur von Andersons eigner filmischen Inszenierung übertroffen werden kann. Die unkonventionelle Montage, die geniale Farbgebung, die unerreichte Kombination von handwerklich ausgereiftem storytelling und gleichzeitiger Kreation eines surrealen Subtextes – all dies macht "Punch-Drunk Love" zu einem unvergesslichen Kinoerlebnis.
"Punch-Drunk Love" startet am 20. März 2003 endlich auch in Deutschland.
10/10