Nathalie Portmans "Mathilda" in "Leon- der Profi" war der Archetyp für das minderjährig-kindhafte Killergirl, Chloe Moretz erweiterte die Figur in "Kick-Ass" um eine comichafte Variante, mit "Hanna" vergrößert sich das Spektrum um einen weiteren Faktor.
Von der semirealistisch überhöhten Kunstfigur über die fast schon alberne Überzeichnung nimmt Joe Wrights Film die Abzweigung zur Chimäre aus märchenhaftem Erfahrungsprozess und futuristisch-realistischer Grimmigkeit. Ob das zusammen paßt, wird wohl vom Zuschauer individuell entschieden werden müssen, allerdings erweist diese Form der Thrillerunterhaltung als ungewöhnliche Variante, die einen konventionellen Spannungsplot durch metaphorische Coming-of-Age-Elemente unterfüttert.
"Hanna", das ist hier ein fünfzehnjähriges Mädchen, das im Startviertel des Films von ihrem Vater in der Nähe des Polarkreises zu einer zu allem bereiten und versierten Profikillerin erzogen wurde. Den Sinn dieser Aktion, selbst die zeitliche Einordnung des Geschehens muß man sich erst mühsam erarbeiten. Stattdessen werfen diese Szenen ein archaisches Licht auf die Figuren, die sich wie weilend in fantasyhaften Filmen auf einen Rachefeldzug vorbereiten.
Der Reiz der Erzählung besteht dabei in der Komplexität der Titelfigur, die das Leben unter Menschen, die moderne Welt lediglich aus Erzählungen und Lexika kennt, sich aber mittels eines Grimmschen Märchenbuchs eine fabel-hafte Vorstellung neben der grimmigen erwartbaren Realität bewahrt hat.
Dieser Gegensatz entwickelt sich zum Haupthandlungspunkt, als Hanna sich als "bereit" erweist, in den Fängen einer CIA-Einheit, angeführt von einer bösen Stiefmutter aka "Eiskönigin" (Cate Blanchett) zu bestehen.
In der Tradition der Märchen- und Sagenmotive verschwindet der Vater und wird zum Zentrum der Suche, während sich das unterschätzte Kind aufgrund ihres beschränkten Wissens mit größtmöglicher Natürlichkeit (in diesem Fall eines wildnis-affinen Kindes: Gewalt) in Richtung ihres Ziels durchschlägt.
Die phantastische "Queste" besteht hier darin, ein typisches Ziel zu erreichen, ein Haus in Berlin, jedoch führt der Weg von Vater und Tochter über unterschiedliche Wege: während Erik (Eric Bana) sich südwärts vorarbeitet, findet sich Hanna bald in der marokkanischen Wüste wieder, was bedeutet, daß sie zur Erfüllung ihres Auftrags nordwärts Europa durchqueren muß.
Dieser "Weg" wird zum Entwicklungsprozeß, in dem das bisher unterentwickelte Kind mit den allerdings schon sprießenden körperlichen Attributen die Welt um sich herum kennen- und leben lernt.
In einer überhöhten Form glücklicher Fügung oder zauberhafter Zufälle funktioniert diese Reise sogar relativ problemfrei, indem Hanna in einer Art Familienverbund die Grundzüge des Daseins kennenlernt. Sie findet in einer Gleichaltrigen eine Art Freundin, macht erste (unerwartete) Erfahrungen mit dem männlichen Geschlecht, orientiert sich an Vater und Mutter, wobei speziell die freigeistige und umtriebige Hippie-Mutter ein neuer Fixpunkt für die eigene, bisher männerorientierte Existenz darstellt.
Und als wäre es der Metaphern nicht genug, läuft alles auf eine finale Konfrontation zwischen allen Parteien in einem nachgestellten Märchenhaus an einem verfallenen Grimmschen Märchenpark hinaus, in der Rolle, Funktion und Schicksal schließlich erfüllen.
Das Spiel mit den Metaphern und die Schilderung des Weges durch Europa (Marokko, Spanien, Frankreich, schließlich das graue, dreckige Berlin) macht den Hauptspaß des Films aus, der sich sonst auf eine nicht eben sonderlich originelle oder noch nie dagewesene Pointe bezieht, die man früh vermutet und in der man sich später relativ enttäuschend bestätigt sieht, vor allem weil sie dem Geschehen einen abgedroschenen futuristischen Touch verpaßt.
Glanzstück von "Hanna" ist die Visualisierung, die die Handlungsorte praktisch als "neues Spektakel", als "Offenbarung" präsentiert, ohne sie zu werten (speziell für hiesige Sehgewohnheiten ist "Hanna" ein sehr deutscher Film). Angereichert mit einigen Actionszenen und einer gewissen märchenhaften Gnadenlosigkeit (die allerdings in einem wesentlichen Punkt, der Ersatzfamilie, die Schilderung der weiteren Entwicklung unpassenderweise ausläßt), kann der Film auch bei eher mainstreamigen Actionfreunden punkten.
Herzstück des Films ist auf jeden Fall die blasshäutige Saoirse Ronan, die schon in Wrights "Atonement"/"Abbitte" glänzte und hier trefflich auf der Rasierklinge zwischen naivem Kind und eiskalter Teenagerin wandelt, aber dabei immer moralisch und ethisch naiv, weil unerfahren im Umgang mit den Menschen und der Welt. Wenn sie vor Elektronik flieht, stets geschickt improvisiert, einfachste Elemente des Lebens nicht begreift, aber dann komplexe Kampf- und Entscheidungsstrategien zu entwerfen, dann reicht der Film weit über den Erwartungshorizont heraus und weiß stets zu überraschen - wie auch in der Szene, wenn Hanna ihren ersten Kuss zwar erwartet, aber mit den Folgen aus Verwirrung nicht umgehen kann, woraufhin sie auf bekanntere Verhaltensmuster zurückgreift.
Versehen mit einem elektronischen Score der Chemical Brothers, der jegliche typische Emotionsausrichtung nach Hollywoodart vermeidet, wirkt "Hanna" erfrischend und neu, aber auch kantig und unberechenbar, so wie die Protagonistin selbst. Und weil auch formal das hektische Gezappel, der kakophonisch moderne Schnitt und die Fokussierung auf die Vermeidung von visueller Gewalt mittels Andeutung hier einer kreativen Variante untypischer Techniken weicht, hat man wirklich das Gefühl, eine eigene Handschrift wiederzuerkennen, die eben nicht "vom Fließband" wirkt.
Durch das Maul des Löwen zum eigenen Selbst: 8/10