Review

Jedes Filmjahrzehnt braucht seinen definitiven Reunion-Film, bei der Übertritt in die nächste Lebensphase begangen oder gefeiert wird - einen Film, der seinem Publikum etwas bedeutet, weil man sich im selben Alter befindet und daher die Nöte und Befindlichkeiten der Figuren nachempfinden kann - um sich dann verstanden zu fühlen.
Die 70er starteten mit "The Last Picture Show", die 80er hatten "Diner" und "St.Elmos Fire", die 90er versuchten es mit "Peter's Friends", "Beautiful Girls" oder "Grosse Pointe Blank".
Jetzt ziehen die Franzosen nach und versuchen es mit "Les petites mouchoirs" (die kleinen Taschentücher), der im Englischen "Little White Lies" und bei uns mit "Kleine wahre Lügen" übersetzt wurde. Wieder eine Bestandsaufnahme einer Generation, diesmal die der Enddreißiger, bei der sich vielleicht zum letzten Mal die Lebensführung vor dem Alter einer Prüfung auf Herz und Nieren unterziehen muß.

"Kleine wahre Lügen" beginnt mit einem echten Kabinettstückchen, wenn der Zuschauer mittels ultranaher Handkamera dem feierwütigen Ludo, deutlich schon um die 40, durch einen ekstatischen Club folgt, als er für den Tag (bzw. die Nacht) einen Schlußstrich zieht, um sich auf sein Motorrad zu begeben und in der Morgendämmerung durch das fast menschen- und autoleere Paris zu zuckeln, deutlich übermüdet, alkoholisiert und angeschlagen, aber bester Laune.
Die Sequenz schreit geradezu nach einer Katastrophe, doch sie erfolgt er, als sich die Kamera irgendwann dezent von Ludo zurückzieht - und ihn ins Krankenhaus bringt.

Das ist der Auftakt zu einer bitteren Konzessionsentscheidung: stets am Rande des Koma schlingernd, entschließt sich seine Clique von jahrelangen Freunden, den alljährlichen Urlaub in Südfrankreich am Meer nicht abzusagen, weil man für ihn sowieso nichts tun kann. Stattdessen erwägt man eine Urlaubsverkürzung, verzichtet aber nicht auf die alljährliche Einladung des wohlhaben, schwer arbeitenden und nie zur Ruhe kommenden Max.

In der Folge entspinnt sich in der Beschaulichkeit geselliger Meereslandschaft ein kurioser Reigen von Menschen, Schicksalen und Befindlichkeiten, denn wirklich angekommen im Leben und im eigenen Ich scheint niemand zu sein.
Da ist die weltreisende und sexuell offene Marie, die an akuter Unfähigkeit, sich zu binden, leidet und die Ängste in Alkohol und Hasch aufzulösen versucht. Eric ist Schauspieler und Schürzenjäger und macht seine Beziehungen nach vielen Fehlschlägen indirekt gleich selbst kaputt und trauert Marie hinterher. Antoine wiederum ist Kind geblieben und nervt alle mit seiner teenagerhaften Selbstaufreibung rund um seine verlorene Freundin, die aber fragmentarisch mit ihm noch Kontakt hält. Vincent ist scheinbar glücklich verheiratet, verbirgt aber unter der Schale des Familienvaters mit Kindern in Wirklich eine homosexuelle Seite, die sich soweit auswirkt, das seine Frau ihr Heil in harten virtuellen Pornos sucht. Statt für seine Frau schwärmt Vincent nun ausgerechnet für den halb-väterlichen Max, der seine Frau wiederum wahnsinnig macht, das er sich weder entspannen, noch seine jährliche Veranstaltung genießen kann, weil er indirekt glaubt, sich die Freundschaft der Clique erkaufen zu müssen, was wieder Frust provoziert.
Allesamt hadern sie mit Liebesglück und Liebesleid, verlieren aber nie ganz aus dem Hinterkopf, daß mit Spaßvogel Ludo eine zentrale Figur fehlt, so daß sie sich gezwungen fühlen, in diesem Jahr voller Pannen und angespannter Emotionen, sich mit ihren Problemen wenigstens latent auseinander zu setzen. Ob sie von Erfolg gekrönt sind, ist dabei allerdings eine andere Sache.

Gut zweieinhalb Stunden dauert dieser fast shakespearsche Reigen und wem dies für Beziehungsdramödie ein wenig lang vorkommt, dem sei gesagt, daß die Lauflänge auf fast wundersame Weise gar nicht ins Gewicht fällt.
Worauf der Film hinaus will, das stellt er nämlich über lange Zeit hinten an, stattdessen fokussiert abwechselnd auf sein recht großes Ensemble und Regisseur und Autor Guillaume Canet räumt fast jedem seiner Mitspieler (eigentlich ist er nämlich selbst eher Darsteller) ausreichend Platz ein, um dessen oder deren jeweilige Geschichte langsam und prägnant zu entwickeln. Keine Storyvorschüsse, keine Exposition, in jeden Charakter muß man sich erst hineinarbeiten, die Vorgeschichten kommen erst nach und nach zum Vorschein und mit den von den Zuschauern geschätzten Mini-Happy Ends hat er es auch nicht so. Nacheinander reiten sich so ziemlich alle ins Dilemma, üben Befreiungsschläge, wachsen an ihren Fehlern und räumen sie zum Glück dann doch nicht aus, wobei sich komische und dramatische Momente vor eindrucksvoller Urlaubskulisse ziemlich die Waage halten, ohne das es die meiste Zeit rührselig wird.

So gerät "Kleine wahre Lügen" zu einem Beziehungsabenteuer zum Miterleben, in dem sich jeder von Anzeichen der Midlife Crisis Gebeutelte hier und da wiederfinden kann, nur leider mangelt es der Geschichte an einem wirklich prägnanten Abschluß, wobei solche "Freundeskreis"-Filme natürlich immer nur kurze Momentaufnahmen darstellen, die offen lassen müssen, wie es mit den Figuren wirklich weitergeht oder weitergehen könnte.
Zum Finale verliert Canet leider sein kreatives Gespür und flieht dorthin, wo einfallslose Autoren halbwegs rund aus solchen komplexen Geschichten herauskommen, in der leicht klebrigen Rührseligkeit einer Drei-Taschentücher-Versöhnungsszene. Schon "Peter's Friends" haderte damit, aus seiner Magenschwingersituation nur durch ein flüchtiges Auflachen und ein Einfrieren der Einstellung mitten in einem Song enden zu müssen und Canet kopiert diese Schlußeinstellung an anderer Stelle fast hundertprozentig, legt aber noch ein paar träntriefende Schippen drauf, die leider nicht das zufrieden stellen, was man sonst von einem wunderbar unterhaltenden Charakterdrama erwarten könnte.
Wer es simpel mag, der wird sich mit dem netten Happy End sicher anfreunden können - aber die Gebrochenheit aller Figuren hätte hier nach etwas vagem, etwas komplexen verlangt.
Bis es soweit ist, hat man aber fast zweieinhalb Stunden mitgefiebert, gelacht und ein Tränchen verdrückt, ohne daß es besonders abgeschmackt oder vorausberechenbar gewesen wäre. Und das lohnt die Zeitinvestition natürlich mehr als genug. (7,5/10)

Details
Ähnliche Filme