Derry, Nordirland, 30. Januar 1972.
Die Realität: Der protestantische Stadtabgeordneter Ivan Cooper organisiert eine Demonstration. Es geht um Bürgerrechte für die katholische Minderheit. Der Demonstrationszug wird nicht erlaubt. Man geht natürlich trotzdem. Telefone. Fotografen. Journalisten. Mitorganisatoren. Menschen drängen durcheinander. Unendliche viele Fragen, alle auf einmal. Blitzlichter. Nachbarn. Freunde. Und mittendrin die katholische Geliebte, die gleichzeitig telefoniert, Fragen beantwortet, und dem Abgeordneten zu verstehen gibt dass ihre Beziehung zu Ende ist.
Der junge Gerry Donaghy kommt gerade aus dem Knast und will nie wieder zurück. Heiratspläne mit seiner Freundin. Gegen den Widerstand der Familie, weil sie keine gute Katholikin ist. Mitmachen beim Protestmarsch? Na klar doch, aber nur ein wenig. Immerhin ist er auf Bewährung draußen.
Die Kumpel von Gerry freuen sich auf den Marsch und möchten die Briten am liebsten bis nach England zurückprügeln. Am Besten sofort. Wird es heute Ärger geben? Etwas Ärger gibt es doch immer. Man zieht im Zug mit. Es wird „Brits out“ gebrüllt. Beim Anblick von Soldaten kommen Aggressionen hoch. Es wird provoziert. Mutproben. Aber es gibt Grenzen. Die eingehalten werden.
Ein Menschenzug windet sich eine lange, regennasse Straße herunter und singt “We shall overcome“. Graue Menschen zwischen grauen Häusern versuchen ein wenig Farbe in ihr Leben zu bringen. Und Zukunft in das Leben ihrer Kinder. Das Bewusstsein der moralischen Überlegenheit gegenüber Unterdrückung und Gewalt. Menschen begrüßen freudig den Organisator. Ein Sonntag mit der Familie und mit Freunden. Kinder. Alte. Jugendliche. Ordner. Hände schütteln. Mädchen. Transparente. Lieder. Lautsprecherdurchsagen.
Provos sitzen in einem Auto.
Offiziere im Hauptquartier. Es wird Tee getrunken. Pläne werden beschlossen. Pläne werden verworfen. Briefings über Stadtplänen. Eifrige Gesichter. Beflissene Stabsangehörige telefonieren und nehmen Befehle entgegen. Lageberichte werden weitergegeben. Telefone. Stimmen. Hektik. Durcheinander. Ein Superintendent befürchtet das Schlimmste. Ein Brigadegeneral möchte das Schlimmste verhindern. Ein Generalmajor will hart durchgreifen. Will ein Zeichen setzen.
Englische Fallschirmjäger. Eine Eliteeinheit. Die sich ihrer militärischen Überlegenheit bewusst ist. Und aus ihrer Abneigung gegenüber Iren keinen Hehl macht. Die Anspannung vor einem Einsatz. Befehle schwirren durch die Luft. Motoren laufen. Männer in Kampfkleidung und mit geschwärzten Gesichtern. Testosteron. Eifriger Funkverkehr mit dem Hauptquartier. Einsatzbefehle werden gegeben. Und wieder zurück genommen. Zigarettenrauchend zusammenstehen und diskutieren. Diese Scheiß-Terroristen, denen zeigen wir es. Verdammte Hooligans. Warum lassen wir die Iren nicht einfach demonstrieren? Auf welcher Seite stehst Du eigentlich? Wer den Iren Freiheit geben möchte wird abgekanzelt. Wird zum Feind erklärt.
Broken bottles under children's feet
Bodies strewn across the dead end street
Steinewerfende Hooligans vor einer Barrikade. Rauch steigt auf. Das Geräusch splitternden Glases. Steine auf Metall. Parolen werden gerufen. Gewalt. Steine auf der Straße. Zerstörte Autos. Rennende Menschen. Polizei und Militär. Wasserwerfer, auf ihren Einsatzbefehl wartend. Assoziationen zu Palästinensern. Zu Hausbesetzern in Berlin, Hamburg oder Frankfurt. Zu den Bildern von Mai-Demonstrationen. Chaos.
Und dann die Eskalation: Soldaten schießen auf flüchtende Menschen. Männer in blutigen Pullovern schwenken weiße Handtücher. Und werden niedergeschossen. Andere versuchen fortzurennen. Sie werden von Kugeln getroffen. Menschentrauben drängen sich um blutende Leiber und wollen diese beschützen. Schreie. Rauch von Granaten. Schüsse. Panzerwagen fahren durch die Menschenmenge. Gewalt. Fassungslosigkeit. Angst. Entsetzen. Menschen stehen mit erhobenen Armen an einer Mauer. Die Erkenntnis der Unterlegenheit. Der Machtlosigkeit. Ausweglosigkeit. Wut. Verzweiflung. Führen zu Kurzschlussreaktionen.
And the battle's just begun
There's many lost, but tell me who has won
Das Wissen um die tatsächliche Zahl der Opfer sickert in das Bewusstsein. Tote liegen auf dem Gang des Krankenhauses. 13 Menschen die gestern noch lebendig waren. Die gestern noch gelacht und geliebt haben. Schwer bewaffnete Soldaten überall. Weinende Menschen. Trauer. Entsetzen. Hilflose Ärzte. Überforderte Krankenschwestern. Blut. Überall Blut. So viel Blut …
The trench is dug within our hearts
And mothers, children, brothers, sisters torn apart
Ein Mädchen steht in einer Gasse und wartet auf ihren Freund. Sie wartet. Die Kamera ruht auf ihr. Irgendwann geht sie. Sie ist enttäuscht. Sie wollten doch heiraten. Dass er tot ist wird sie erst irgendwann später erfahren.
Auch englische Soldaten haben Gefühle. Angst. Schuldgefühle. Rechtfertigungen. Ausreden. Die zur erzählten Realität werden, damit ihnen selber nichts passiert. Weil sie instinktiv spüren dass sie im Unrecht sind? Sich etwas schön reden. Sich schämen.
Der englische Generalmajor erklärt vor seinen Männern, dass ein Zeichen gesetzt wurde.
Junge Männer stehen in einer Schlange, um der IRA beizutreten. So viele wie noch nie werden den bewaffneten Kampf aufnehmen.
Die Realität?
Der Film: Kaum eine längere Einstellung. Keine Musik. Wenn etwas erklärt wird, dann immer so, als ob es einem Dokumentarfilmer erklärt wird. Körnige Aufnahmen von Demonstrationen, von Straßenkämpfen, von Toten und Verletzten, von hektischen Einsatzbesprechungen und von Entscheidungen, die unter äußerster Anspannung getroffen werden. Manchmal überlagert von Hintergrundgeräuschen. Gespräche, rückende Stühle, Telefone, Lärm … Keine einzige Szene wirkt wie ein Spielfilm. Der Zuschauer ist mittendrin, und kann sich dem Krach, der Hektik, dem Stress und der Spannung nicht entziehen. 102 Minuten Adrenalin. 102 Minuten Anspannung. Herzklopfen. Und die Erkenntnis, einem der schlimmsten Massaker des späten 20. Jahrhunderts an Zivilisten quasi live beiwohnen zu müssen.
Der Film?
Die Grenzen zwischen Realität und Film verschwimmen …