Einer der frühen Roadmovies. Es wäre sicherlich zu einfach, es bei der Besprechung von Ingmar Bergmans „Wilde Erdbeeren“ nur darauf zu belassen, dem Film eine Roadmovie-ähnliche Machart zu attestieren. Und doch ist dieser Film vordergründig tatsächlich ein Roadmovie. Hintergründig ist er jedoch auch ein Drama über das Altern, den nahenden Tod, die Abrechnung mit dem eigenen Leben und die finale Annäherung an Charakterzüge und Personen, die der Hauptfigur zuvor sehr fern waren.
Mein Leben ist Arbeit gewesen. Zuerst wegen des Broterwerbs, dann aus Liebe zur Wissenschaft.
Die ersten Worte aus „Wilde Erdbeeren“. Sie charakterisieren bereits Professor Isak Borg (Victor Sjöström), ohne dass es der Zuschauer bewusst wahrnimmt. Der 78jährige soll am folgenden Tag in der Universität Lund zum Doctor Jubilaris ernannt werden. Entgegen der ursprünglichen Planung reist Borg nicht mit dem Flugzeug an, sondern nimmt den Wagen. Er wird begleitet von seiner Schwiegertochter Marianne (Ingrid Thulin). Und so beginnt eine Reise, auf der Begegnungen mit den verschiedensten Menschen, aber auch die Begegnung mit der eigenen Vergangenheit die Lebensansicht des Professors nachhaltig ändern.
Bereits in den ersten Minuten erfährt der Zuschauer, dass der so sympathisch wirkende Professor alles andere als ein sympathischer Mensch ist. Seine Schwiegertochter bezeichnet ihn gar als gefühlskalten, egoistischen Steinklotz, der durch nichts zu bewegen sei – ein lebender Toter. Ein Urteil, das Professor Borg schwer trifft, das ihn letztlich sogar zum innerlichen Sinnieren über sein Verhältnis zu seinen Mitmenschen bringt. Anstoß für das Nachdenken über das eigene Leben war jedoch nicht allein das Urteil seiner Schwiegertochter, sondern vielmehr ein Traum, der ihn in der Nacht zuvor ereilte. Eine Vision seines eigenen, nahenden Todes – von Ingmar Bergman mit beeindruckender bildgewaltiger Symbolik verfilmt – bewegt ihn zu dem, was auf der Fahrt nach Lund alles geschieht…
Basierend auf einem starken Drehbuch – das unter anderem mit einer Oscar-Nominierung bedacht wurde – erschuf Ingmar Bergman mit „Smultronstället“ die reich bebilderte Abrechnung eines alten Mannes mit seinem Leben – einem Leben, das mehr aus Arbeit als aus Zwischenmenschlichkeit bestand. Getragen von dem hervorragenden Schauspiel des ehemaligen Stummfilmregisseurs Victor Sjöström erfahren wir so einiges aus dem Leben des gealterten Professors, erleben mit, wie er sich einer Gruppe Jugendlicher, die ihn schlussendlich schon fast vergöttern, (groß)väterlich annähert. Gleichermaßen entwickelt sich Mariannes Verhältnis zu ihrem Schwiegervater. Sie erkennt, dass hinter dem harten Äusseren eine liebenswürdiger Mensch steckt. Sämtliche Charaktere machen so ihre eigene Entwicklung durch.
Das sind alles bereits Aspekte, die diesen Film sehenswert machen. Doch vor allen Dingen die mit einer unergründlich tiefen Symbolik erschaffenen Traumsequenzen Professor Borgs erschlagen den Zuschauer förmlich. Bergman gelang es, innerhalb dieser kurzen Traumsequenzen ein unglaublich scharfes Charakterbild zu zeichnen, das dem Zuschauer die Hauptfigur trotz ihrer Gefühlskälte näher bringt. Mit der Zeit entwickelt sich gar Mitleid mit diesem alten Mann, der scheinbar nie lernte, richtig zu lieben.
„Wilde Erdbeeren“ ist stimmungsvolles Kino, ein Plädoyer gegen Egoismus und Gefühlskälte, das Bildnis eines Mannes, der dem Tod entgegenblickt und zugleich – ja – Roadmovie. 9/10