"Half of what I say is meaningless
But I say it just to reach you, Julia"
Der 15jährige John (Aaron Jones) wächst Mitte der 50er Jahre in einem bürgerlichen Teil Liverpools bei seiner Tante Mimi (Christin Scott Thomas) und seinem Onkel George (David Threlfall) auf. Während seine strenge Tante versucht, den Jungen ordentlich zu erziehen, ist Onkel George für den gemeinsamen Spaß zuständig, weshalb dessen früher Tod einen herben Verlust für John bedeutet. Zudem sieht er bei der Beerdigung seine Mutter Julia (Anne-Marie Duff) wieder, die ihn als 5jährigen verlassen hatte. Als sein Freund Pete ihn zu der Wohnung seiner Mutter führen will, muss John feststellen, dass diese in den letzten zehn Jahren in seiner unmittelbaren Nähe wohnte.
Was sich nach der Entstehung eines Konflikts anhört, führt stattdessen zu unerwarteter Harmonie, denn Julia umarmt ihren Sohn, bittet Pete auf ihre beiden kleinen Töchter aufzupassen, und verbringt mit John einen schönen Tag im nahe gelegenen Blackpool. Anders als seine konservative Tante, sprüht Julia vor Leben und tanzt zur aktuellen Rock'n Roll Musik. Als John von seiner Schule wegen flegelhaften Benehmens suspendiert wird, nutzt er diese Zeit, um die Tage bei seiner Mutter zu verbringen, die ihm währenddessen das Banjo-Spielen beibringt. John lässt sich zunehmend vom Geist des Rock'n Roll anstecken, kleidet sich entsprechend und will eine Band gründen. Doch Tante Mimi kommt hinter seine Besuche bei Julia und der lange unterschwellig gehaltene Konflikt bricht hervor.
Die erste Hälfte von "Nowhere boy" lebt besonders von seinem überzeugend entworfenen Kolorit der englischen Nachkriegszeit, an der Schwelle zur Moderne der 60er Jahre, das sich auch in der Entwicklung des Konflikts zeigt. Schon an wenigen Details wird deutlich, dass Johns Mutter an Depressionen leidet, aber diese Begrifflichkeit existiert hier noch nicht. Ihr Mann macht sie darauf aufmerksam, dass sie schon einmal nicht in der Lage war, für ihren Sohn zu sorgen, und sie spricht später gegenüber John davon, dass die Ärzte keine Erklärung für ihr Verhalten haben. Durch die Konsequenz, keine gegenwärtigen Argumente für ihr Verhalten zu verwenden, sondern im Geist der 50er Jahre zu bleiben, wird Johns Irritation erfahrbar, der emotional zwischen den Schwestern Julia und Mimi aufgerieben wird.
Gleichzeitig findet diese familiäre Auseinandersetzung ihre Parallelen in der Außenwelt, denn John verabschiedet sich von der Vorstellung eines bürgerlichen Lebens und will Musiker werden. Seine erste unter Mitschülern gegründete Band wird durch Änderungen in der Besetzung aufgewertet, er beginnt, eigene Songs zu schreiben und tritt vermehrt auf. Diese Wechselwirkung zeigt sich auch in seinen unmittelbaren mütterlichen Beziehungen. Enttäuscht von seiner "echten Mutter" Julia, kehrt er zu seiner "Pflegemutter" Mimi zurück, die ihm zudem eine Gitarre kauft. Doch als seine Schulnoten schlechter werden, verkauft Mimi die Gitarre wieder, worauf er sich eine neue von dem Geld seiner "echten Mutter" besorgt. Was sich hier so praktisch anhört, belastet Johns Psyche erheblich, denn ständig wird er zwischen seinen Gefühlen hin und her gerissen.
Allerdings dramatisiert "Nowhere boy" diese Konstellation keineswegs, frischt die Story mit vielen, auch witzigen Details auf, reichert sie mit zeitgenössischer Musik an und wandelt gekonnt auf dem schmalen Grad zwischen persönlicher Tragik und der Leichtigkeit eines jungen Lebens, dem viele Möglichkeiten offen stehen. Vor allem aber ist "Nowhere boy" ein Bio-Pic, dass nicht zwanghaft als solches gelten muss, denn auch wenn es sich bei John um John Lennon handelt, und hier eine authentische Geschichte erzählt wird, wird der innere Konflikt des Protagonisten generell erfahrbar und ist in seinen Grundzügen typisch für die Zeit Ende der 50er Jahre.
Nur wenig weist auf die späteren "Beatles" hin, wenn man davon absieht, dass sich unter Johns Bandmitgliedern auch schon Paul (Thomas Sangster) und George (Sam Bell) befinden. Ganz zu Beginn erklingt der Anfangsakkord zu "A hard days night", aber mehr berühmte "Beatles" Musik ist hier nicht zu hören, nur frühe Lieder der "Quarrymen" lassen schon die späteren Gesangsharmonien erahnen. Für den Eingeweihten gibt es noch mehr versteckte Details, wie etwa die "Strawberry fields", an denen John vorbei radelt, aber daraus ergeben sich die zwei Gesichtspunkte, aus denen man den ersten Films der Künstlerin Sam Taylor-Wood betrachten kann.
Zum Einen vermittelt er gut die psychische Situation des angehenden Künstlers, seine erste Berührung mit dem Rock'n Roll und auch seinen sperrigen Charakter, der von Aaron Jones auch optisch überzeugend umgesetzt wird, zum Anderen bleibt er aber die Geschichte über einen Jugendlichen, der früh Gefühle des Zweifels daran, geliebt zu werden, und Todeserfahrungen verarbeiten musste - oder wie John Lennon es in einem Interview 1980 ausdrückte "it was really a hard time for me. It made me very, very bitter!".
In "Nowhere boy" bleibt dagegen auch der Optimismus erhalten, der grundsätzlich darin verborgen, ist, dass es eine Zukunft gibt, denn er endet mit dem Aufbruch nach Hamburg, Anfang der 60er Jahre. Doch das ist eine andere Geschichte...
"So I sing a song of love for Julia"
In Erinnerung an meine Mutter Anna - 24.10.2010.