Regisseur David Lean brachte einige unverwüstliche Klassiker wie „Doktor Schiwago“ oder „Die Brücke am Kwai“ heraus, nachdem er den ebenso unverwüstlichen Roman von Charles Dickens adaptierte. Dabei hielt er sich relativ dicht an die literarische Vorlage und klammerte der Straffung wegen nur einige Nebenfiguren aus.
Findelkind Oliver Twist (John Howard Davies) wächst zunächst in einem Waisenhaus, später in einem Armenhaus auf. Als Zehnjähriger muss er beim Bestatter schuften, dann zieht es ihn nach London, wo er in die Fänge des Hehlers Fagin (Alec Guinness) und seine Bande von jugendlichen Taschendieben gerät. Als Oliver über Umwege beim gutherzigen Mr. Brownlow (Henry Stephenson) landet, wähnt er sich endlich am Ziel seiner Träume, doch die Gangster um Fagin geben ihren Schützling nicht auf…
Drei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs schlug der Film recht hohe Wellen bei den Erstaufführungen. Es gab massenweise Proteste von jüdischen Gruppierungen, die in der Darstellung der Figur Fagin den raffgierigen Juden sahen, - dabei wird Fagin nicht mit einer Silbe als Jude bezeichnet. Mit etwas mehr Feingefühl hätte man allerdings auf die übergroße Nase und die stets zusammengekniffenen Augen bei der Darstellung verzichten können, was letztlich schade um die recht präsente Darstellung von Guinness ist, dessen Performance hernach massenweise der Zensur zum Opfer fiel.
Die Geschichte zeichnet die Odyssee des Titelgebenden, der zum Spielball der Gesellschaft wird, welche Dickens in seinem Roman deutlich anprangert. Die sozialen Missstände des Vereinigten Königreich im 19. Jahrhundert umschreiben in erster Linie Kinderarbeit und die damit verbundenen Demütigungen und unmenschlichen Lebensumstände. Wenn sich die Ausgestoßenen in einer Spelunke treffen und halb besoffen Lieder anstimmen, offenbart das auf den ersten Blick den Zusammenhalt, doch wie die Wirklichkeit vonstatten geht, veranschaulichen im Verlauf Intrigen und Machtkämpfe, bei denen sich mancher selbst eine Grube gräbt.
Audio-visuell erinnert das Werk phasenweise an einen Stummfilm, dessen virtuose Orchestermusik stark im Vordergrund liegt, während Dialoge oftmals gar keine Rolle spielen. Das kristallisiert sich bereits mit der Eröffnungsszene heraus, als sich Olivers Mutter durch ein Unwetter kämpft oder später, als ein Bösewicht auf ein Dach zu fliehen versucht. Bildlich gesprochen eilen den düsteren Gestalten oft ihre Schatten voraus, einige Schauplätze strahlen beinahe so etwas wie eine gruselige Romantik aus, wogegen das Domizil des Samariters Brownlow ein durch und durch helles Heim bietet, alles tadellos sauber und beinahe steril.
Die Bildsprache verstärkt mitunter den Charakter eines modernen Märchens.
Von zitternden Hunden in Nahaufnahme über ein Flashback zum Sterbebett bis zu einer Egoperspektive eines Geschlagenen, - Lean hat sein Werk genau durchkalkuliert, eine überaus treffende Besetzung gewählt und die Geschichte, bis auf einige Kleinigkeiten wie den Hintergrund der Figur Monks recht gut auf den Punkt gebracht. Eine sehenswerte Umsetzung mit einer teils immens dichten Atmosphäre, welche in der ungeschnittenen, mit deutschen Untertiteln unterlegten Fassung noch besser zur Geltung kommt.
7 von 10