David Lean wird heutzutage ja voll des Lobes mit seinen Meisterwerken „Die Brücke am Kwai“ und „Lawrence von Arabien“ assoziiert wird, sollte man nicht seine frühen britischen Meisterwerke vergessen, von „Geisterkomödie“ über „Große Erwartungen“ bis zu „Begegnung“. Dazwischen steht eine Literaturverfilmung, die heutzutage zu Unrecht fast vergessen wurde, Dickens‘ „Oliver Twist“.
Gedreht kurz nach Ende des Krieges hält sich der Film im Wesentlichen an die Hauptelemente des Romans und arbeitet episodisch die Charaktere scharf heraus, die stets gleichzeitig eine grimmige wie ironische Spiegelung des Gesellschaftsbildes zu Dickens Zeiten waren.
Obwohl mit einem Happy End versehen, ist „Oliver Twist“ an sich eine grausame und traurige Geschichte, in der die Waise Oliver, nachdem seine Mutter kurz nach seiner Geburt in einem Arbeitshaus gestorben war, von einer düsteren Station seines kurzen Lebens zur nächsten taumelt, stets der Gier und der Mißgunst finsterer Gestalten ausgesetzt. Freundlichere Episoden sind meistens nur von kurzer Dauer, ehe dem Jungen, der sich gegen die Übermacht nicht wehren kann, wieder Schlimmes widerfährt.
Aber Oliver ist zwar der Angelpunkt des Geschehens, bleibt aber stets Nebenfigur in dem wilden Treiben rund um ihn herum und seine ungeklärte Herkunft. Haynes und Lean verkürzten und verknappten den Roman wo sie konnten, ohne die Essenz und das Kolorit der Geschichte, ganz abgesehen vom historischen Kontext anzugreifen. Sie arbeiteten geschickt die wesentlichen Elemente heraus und behielten den tragischen Ton bei.
Als Folge davon kann man in dieser Schwarz-Weiß-Fassung, die dem Zuschauer auf geradezu magische Weise ein London des letzten Jahrhunderts vorzaubert, eine ganze Reihe von Charakteren bewundern, die an Typisierung und Handfestigkeit kaum zu übertreffen sind.
Allen voran steht sicherlich, obwohl selbst nur Nebenfigur (es gibt eigentlich keine richtige Hauptfigur in diesem Film), Alec Guinness als der schurkische Fagin, der räudige Anführer eine Kinderdiebesbande, der zwischen Einschmeicheln und Angst einjagen hin- und herschwankt. Guinness Leistung ist gar nicht hoch genug zu bewerten, den man unter seinem monumentalen Bart und hinter dem irre starrenden Blick kaum erkennen kann.
Ganz offensichtlich als Jude gezeichnet und mit einer gigantischen Hakennase versehen, ist das sicherlich eine gute Grundlage für eine rassistische Diskussion, aber Dickens hat es so nun mal vorgegeben und war nicht bekannt für political correctness.
Fast noch schlimmer, da mit gar keinen angenehmen Eigenschaften ausgestattet Robert Newton als der Finsterling Bill Sykes, ein Bösewicht aus dem Bilderbuch, an dem man ständig eine menschliche Regung entdecken will, bis er in einer zu erwartenden, aber dennoch schockierenden Szene die abtrünnige Kneipenbedienung Nancy ermordet, was ihn schließlich zu Fall bringt.
Newton ist wirklich beängstigend und beweist seine Klasse einmal, wobei es wirklich schade ist, daß er sich acht Jahre später endgültig totgesoffen hat, gerade 50 Jahre alt.
Weitere berühmte Figuren sind der behäbige Polizist Mr.Bumble, Fagins ausführende Hand Artful Dodger, der geradezu übertrieben gütige Mr.Brownlow oder eben Nancy, die Gefallene mit dem goldenen Herzen. Und um sie herum tanzt ein weiteres Panoptikum skuriler Gestalten, die zu Amusement und Gesellschaftskritik herausfordern. Und der stille Oliver als menschliche Billardkugel dazwischen.
Literaturfans werden die Kürzungen nicht gern gesehen haben, aber den dickenschen Flair fängt Lean wunderbar ein, wenn auch nach Hollywoodmaßstäben das Ergebnis nicht wie gewohnt konstruiert ist.
Als Zuschauer muß man sich vielmehr in die Bilder versenken, um im richtigen Moment in der damaligen Zeit anzukommen. Und man kommt richtig an, denn Lean spart nicht die grausamen Elemente aus, da werden schon mal Kinder geschlagen und das recht graphisch.
Eine Tortur dagegen ist die in Deutschland verbreitete Fassung, die nicht einmal 90 Minuten läuft. An Gewalt nur latent entschärft, hatten die Zensoren wohl in damaligen Zeiten höllisch Angst vor den jüdischen Bezügen und schnitten so ziemlich ALLES heraus, was Alec Guinness auch nur ansatzweise in Nahaufnahme zeigte, auf das ja keine Hakennasendiskussion aufkäme. Deswegen taucht er in dieser Fassung auch so gut wie gar nicht auf.
Zum Glück hat Koch Media eine ungeschnittene Fassung in Deutschland auf den Markt gebracht, die beweist, wie großartig die schauspielerische Leistung, wie elementar die fehlenden Szenen sind und wie sehr die Schnitte den Sinn verfälschen. Mit 20 zusätzlichen Minuten (die übrigens nicht synchronisiert sind) wurde so aus Leans Film wieder das Meisterwerk, das es ist. (8,5/10)