Review

In Hiroshima mon Amour beginnen wird mit dem Umschlingen, dem "in einander verwoben sein". Arme, Hände, Schultern. Doch bis jetzt sind noch keine Individuen zu erkennen. Wir hören nur Stimmen. Ein Mann und eine Frau. Sie sagt sie kenne Hiroshima, er sagt, sie kenne Hiroshima nicht. Es folgen zu Unhauf Bilder vom besagten Ort - das alltägliche Leben, ein Museum, die Medien, die die Tragödie schildern, die Tragödie selbst, ihre Folgen, die Proteste und schliesslich wieder das neue, alltägliche Leben. Wir lernen nun die beiden Sprecher kennen: Sie Französin, er Japaner. Beide ohne Namen, beide sind mit dem Krieg und dessen Folgen aufgewachsen. In der 24-stündigen, emotionalen Irrreise der beiden Ehebrecher, lernen wir viel über die Vergangenheit. Vor allem über die ihre. Damals in Frankreich, in Nevers - ihrem Hiroshima - liebte sie einst einen deutschen Soldaten. Als er erschossen wurde, brach sie zusammen, lebte fortan in einer einsamen Welt, in einem einsamen Keller. Schliesslich hat sie sich dann doch noch erholt. Das heisst, sie gibt sich zumindest erholt - wie sie selbst zugibt.
Doch in Hiroshima passiert das Unglaubliche: Sie verliebt sich erneut. Und auch diese Liebe wird von einer Unmöglichkeit überschattet. Die Gesellschaftsnormen sind hart, heute wie damals. In dieser verzweifelten Affäre erkennt sie ihre eigene Vergangenheit wieder. Sie öffnet sich dem Fremden mit dem Wissen, dass sich ihr Schicksal wiederholen wird.
Alain Resnais erstellte mit Hiroshima mon Amour ein beeindruckendes, tiefes Gefilde. Ein Gefilde an Menschlichkeit und vor allem an Erinnerung. Die Erinnerung ist das zentrale Herzstück des Films, so wie vielleicht in Resnais' gesammtem Werk der 60er Jahre das Hauptthema. Als "sie" durch die Gassen von Hiroshima läuft, laufen wir gleichzeitig mit ihr durch Nevers. Wir erinnern uns mit ihr. Gerade mit den verschlungenen, aber kopflosen Körpern zu Beginn des Filmes stellt Resnais die Frage, wer sind wir? Was macht uns aus? Die Erinnerungen und Erfahrungen, die wir sammeln? Aber wie verlässlich ist das? Wie gut kennen wir uns selbst? Und in wie fern sind wir davon unabhängig? Wie in der griechischen Mythologie, wird die Erinnerung in Hiroshima mon Amour mit dem Bild eines Flusses symbolisiert. In Hiroshima ist es der Ota, in Nevers die Loire. Die Erinnerung "fliesst", sie steht nie im Stillstand, wird ständig erneuert und macht einen klaren Weg, andererseits hat sie wie so mancher Fluss viele Verzweigungen, verteilt sich ungleichmässsig, wird verworen, verläuft sich ins Nichts. Und so wie ein Fluss neben einigen kleineren Quellen auch oftmals eine Hauptquelle besitzt, so ist dies bei "ihr" die Erinnerung an Nevers. Damals wurde sie zu der Person, die sie heute ist, sagt er. Sie versucht sich von ihrer Vergangenheit zu befreien, aber die vielen Kamerfahrten durch Gänge und Strassen im Film zeigen, dass dies nicht so einfach, vielleicht gar nicht erst möglich ist. Das System der Erinnerung ist zu komplex um es zu umgehen.
Stellenweise erinnert der Film thematisch an Hitchcocks ein Jahr älteren Film Vertigo. Genau wie dort, ist der Mensch nicht Herr über sein Schicksal. Er ist dazu verdammt, dasselbe ein wiederholtes Mal zu durchleben, mit der Hoffnung auf eine besseres Gelingen oder Absolution, dennoch mit dem unbewussten Wissen, dass es nicht nur auf und ab, ja und nein gibt, sondern, dass etwas tieferes in uns unser Handeln beeinflusst. Chris Marker hat weitere drei Jahre später seinen thematisch ähnlichen, viel gelobten Kurzfilm La Jetée gemacht, in dem er Vertigo und Hiroshima mon Amour, zwei seiner Lieblingsfilme, gleichermassen huldigt. Und es sind eben die solchen Filme, welche den Zuschauer (bewusst oder unbewusst) in seine eigenen Tiefen führen, die immer wieder endlos faszinieren werden.
Gegen Ende von Hiroshima mon Amour sitzen "er" und "sie" einander in einem Restaurant gegenüber. Jedoch nicht am gleichen Tisch. Sie wird von einem Japaner auf englisch angesprochen, er möchte sich zu ihr setzen, weil sie so einsam aussieht. Genau so hat es zuvor mit den beiden Hauptfiguren angefangen. In dieser Szene wird einem der Taumel in der Zeit und der Erinnerungen nochmals richtig bewusst. Es wiederholt sich alles wieder. Die beiden sehen sich gegenseitig in Stille an. Im Hintergrund ist nur das Plätschern eines Flusses zu hören. Es braucht sehr wenig um einander gegenseitig zu verstehen... Wie er am Ende sagt: Sein Name ist Hiroshima, der ihre ist Nevers.

Oliver

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