Jahrzehntelang in den Höllenkreisen von Rechtsstreits gefangen, schwang sich New Yorks beliebter Wandkrabbler unter der Regie von Sam Raimi direkt auf den Thron der Hollywood-Blockbuster. Es gibt doch noch so etwas wie Gerechtigkeit.
Raimi, von seinen Fans für die „Evil Dead“-Reihe kultisch verehrt, griff sich hier ebenso wie sein Kollege Peter Jackson zur rechten Zeit sein Herzensprojekt, und formte daraus den Stoff, aus dem Kinoträume und Box-Offices gemacht sind.
Die hinlänglich bekannte Geschichte vom Mauerblümchen-Studenten Peter Parker, der von einer radioaktiven Spinne die proportionale Kraft eines Arachniden erhält, wanderte unzählige Jahre von Studio zu Studio, erlebte zahllose Drehbuchfassungen und stand im Zentrum des Interesses solch renommierter Regisseure wie James Cameron und David Fincher, bot aber aufgrund ihrer Überbetonung von Emotionalität einfach zuwenig Stoff für die Sorte Action-Blockbuster, die den jeweiligen Machern vorschwebte. Man war schlichtweg der Meinung, das Publikum interessiere sich nicht für einen Helden, der nebenher Geldprobleme hat. Doch die Rechteinhaber bei Columbia und Marvel pochten weiter auf die menschliche Komponente, und ausgerechnet ein Regisseur obskurer Horrorstreifen und Produzent trashiger Fernsehserien sollte sie nicht enttäuschen. Raimi hatte diese Geschichten förmlich aufgesogen, war sich der Tatsache bewusst, dass der Film nur funktionieren konnte, wenn er sich über die reinen Schauwerte hinaus als Drama definierte.
Und das Resultat gibt ihm nicht nur in finanzieller Hinsicht recht: „Spider-Man“ ist viel mehr als nur die Verfilmung eines beliebten Comic-Hefts, er funktioniert nicht nur als Erfüllung unzähliger Fanträume, sondern auch als humoriges Spektakel für das Massenpublikum. Er nimmt seine Figuren ernst und bietet mehr filmischen Nährwert als die unzähligen Superheldenadaptionen, die ihm vorausgingen (Tim Burtons exzellente „Batman“-Filme mal ausgenommen). Und gleichzeitig lieferte er mit Bryan Singers „X-Men“ den Startschuss zu einer immer noch anhaltenden Welle an Superhelden-Verfilmungen, die mittlerweile auch den Konkurrenten DC unter Zugzwang gesetzt hat (welcher mit „Batman Begins“ dann ähnlich erfolgreich ablieferte). Das Rezept ist so simpel wie effektiv: Nimm die Vorlage ernst.
Und das tut man mittlerweile zweifellos. Vorbei sind die Zeiten, als Schauspieler angesichts der trivial anmutenden Vorlage in hemmungsloses Chargieren verfielen, emotionaler Zugang zur Geschichte nicht unbedingt wichtigstes Kriterium bei der Umsetzung war und sich an den grellen Pappkulissen-Abenteuern häufig nur die zweite Garde von Hollywoods Regisseuren versuchte. Heute drängeln sich die Spitzenleute der Branche um die bunten Bildheftchen, jedes Studio möchte ein Stück vom Superhelden-Franchise-Kuchen abbekommen und wenn Schauspieler die prägenden Worte der bunten Hefte sprechen, geschieht dies mit der Sorgfalt einer Shakespeare-Aufführung. Man darf wirklich froh sein, dass eben nicht nur die technischen Möglichkeiten, sondern auch der geistige Zugang zur Materie einen großen Sprung nach vorne vollzogen haben. Im Falle der Marvel-Helden: Gnade der späten Geburt. Und Sam Raimi darf sich rühmen, Vater des erfolgreichsten Kindes zu sein.
Denn er inszeniert nicht nur das Pflichtprogramm (Spinnenbiss, Erforschung der Fähigkeiten, erste Einsätze als Superheld) mit sicherer Hand, sondern pflanzt auch schon weitsichtig die Samen für die weitere Entwicklung: Peters Anstellung beim Daily Bugle, dem Anti-Spider-Blatt, seine Freundschaft zu Harry Osborn (Kenner des Comics wissen, was aus dem wird), seine innere Zerrissenheit angesichts seiner Schuld. Das alles schreit danach, ausgebaut zu werden, der Film kommt bei aller Geschlossenheit wie eine Einleitung daher, die sich schon ein paar foreshadowings erlaubt. Es dürfte nicht bei diesem heiteren Ton bleiben, darauf kann man sich bei Horrorfachmann Raimi wohl verlassen.
Auch ansonsten ist alles in Ordnung, die Effekte sind wie zu erwarten toll, die Schwünge durch New Yorks Häuserschluchten mitreißend. Wenn Peter zum ersten Mal eine Wand erklimmt oder überlegt, wie er sein Netz abschießt, spürt man den sense of wonder, den so ein Film benötigt. Hier können sich natürlich kritische Stimmen zu Wort melden, welche die organischen Netzdüsen beanstanden, aber dies fällt natürlich unter künstlerische Freiheit und ist zudem eine filmökonomische Entscheidung. Zudem ist zu bedenken, dass auch die kräftevererbende Spinne ein zeitgemäßes Update erfahren hat und sich vom radioaktiven Exemplar (ach ja, sweet Sixties) zum genmanipulierten Viech gewandelt hat. Und Gen-Spinnen vererben nun mal auch ihr Netz, Punkt.
Darüberhinaus ist jede Veränderung zu begrüßen, solange sie nur stimmig ist, was bei Raimi stets der Fall ist.
Was mir übrigens nicht so gefallen hat, war das Kostüm des Kobolds bzw. dessen starrer Helm. Wenn man sieht, was manche Zeichner aus seiner Maske herausholen, ist eine unbewegliche Fratze natürlich etwas ärmlich, gerade, wenn man bedenkt, mit welcher Mimik Dafoe zu arbeiten imstande ist. Sicher, eine Gummimaske hätte schnell lächerlich ausgesehen, aber der Kobold bezieht seinen Reiz ja auch unter anderem aus der Kombination eines fröhlichen Karnevalsoutfits und seiner eiskalten Natur. Und dass ein lächerliches Äußeres in Zusammenhang mit einem psychopatischen Geist sehr effektiv wirkt, beweisen Batmans Gegner ein ums andere Mal. Deshalb an dieser Stelle ein kleiner Rüffel für mangelnden Mut zum Irrsinn.
Wie auch im Großen und Ganzen dem Film ein gewisses Sicherheitsdenken anzumerken ist. Sicher, es ist eines der teuersten Projekte überhaupt gewesen, es stellte auf einem Filmmarkt, dem es an Comicverfilmungen mangelte, ein recht hohes Risiko dar, und Sam Raimi wollte halt auch alles richtig machen, um das in ihn gesetzte Vertrauen zu rechtfertigen, aber der für seine Filme typische Überschwang fehlt hier ein wenig. Es ist nicht so schlimm wie Tim Burtons Affentheater, welches seine Handschrift nahezu auslöschte, aber man darf sich für den Nachfolger schon etwas mehr Raimi´schen Schwung wünschen.
Zum Beispiel den Schwung eines Danny Elfman, der mit seinem gewohnt genialen Händchen unserem Wandkrabbler einen Score auf den kostümierten Leib schneiderte, der es in sich hat. Voller übermütiger Energie, immer wieder durchbrochen von melancholischen Anflügen, zeichnet Elfman hier eine kongeniale Gemütslandkarte für die Hauptfigur und bereichert den Film in einer Weise, wie es außer ihm nur wenige können.
Die Darsteller sind alle bestmöglich besetzt, daran gibt es nichts zu rütteln.
Tobey Maguire gibt uns den Uni-Nerd Parker, als hätte er nie etwas anderes gespielt. Sein Erwachen als Superheld, seine Unsicherheit gegenüber Mädchen, die Reue nach dem Vorfall mit Onkel Ben, all das bringt Maguire vorzüglich rüber und dürfte jeden Kritiker zufrieden stellen; er ist Peter Parker, so wie Elijah Wood Frodo ist.
Kirsten Dunst hat als Mary Jane verständlicherweise weniger zu tun, ist aber jetzt schon mit allem ausgestattet, was ihre Rolle noch auszeichnen wird: Ihre Schauspielambitionen, ihr verkorkstes Elternhaus, ihre heimliche Zuneigung zu Peter. In den Comics dauerte es beispielsweise Jahrzehnte, bis wir mehr über MJs Leben erfuhren, zuvor war sie nur ein hübsches Mädchen an Peters Seite. Hier wurde für den Film gleich das richtige Fundament geschaffen (wenn man mal davon absieht, dass MJ hier den Part bestreitet, der in den Comics Gwen Stacy gehörte, aber das ist hauptsächlich für Comic-Freaks von Interesse).
Rosemary Harris und Cliff Robertson verkörpern Tante May und Onkel Ben mit der nötigen Wärme, um die einschneidenden Ereignisse in Peters Leben wirksam zu machen. Schön ist in diesem Zusammenhang auch die behutsame Modernisierung der Charaktere; so erfahren wir zu Beginn des Films, dass Ben aus seinem Betrieb „herausrationalisiert“ wurde.
James Franco als Harry Osborn gibt einen sehr überzeugenden besten Freund Peters ab, der materiell abgesichert ist, aber an der Zurückweisung durch seinen mächtigen Vater leidet, was sehr dicht an den Comics dran ist (hier trieb es Harry schließlich sogar in die Drogensucht). Osborn senior schließlich wird von einem wie immer fabelhaften Willem Dafoe verkörpert, der ein ganzes Spektrum zwischen emotionaler Eiseskälte und flackerndem Wahnsinn abarbeiten darf und ebenso wie Onkel Ben ein Opfer der modernen Wirtschaft wird. Hier veranschaulicht der Film sehr schön die unterschiedlichen Reaktionen bei vergleichbaren Schicksalsschlägen, was vorlagentypisch Freund und Feind dicht beieinander hält.
Es gäbe noch viele Leistungen zu loben, darunter den famos witzigen J.K. Simmons als Chefredakteur from hell J. Jonah Jameson, aber ein besonderes Kleinod findet sich in der (an Gastauftritten nicht armen) Besetzung allerdings doch noch: Raimi-Spezi Bruce Campbell mimt den engagierten Ringsprecher, der auch noch gleich als Erfinder des Heldennamens herhält und kurzerhand aus der „menschlichen Spinne“ den uns allen bekannten „Amazing Spider-Man“ macht. Tolle Idee und ein verdammt netter Zug von Raimi.
Fazit: Mit der denkbar besten Besetzung ausgestattet und von einem unbeirrten Fanboy inszeniert, ist „Spider-Man“ der spaßige Blockbuster geworden, den sich Millionen Fans erhofft haben. Dramaturgisch ist noch Platz nach oben, aber dafür wurden ja Fortsetzungen erfunden, die gerade in diesem Genre unabdingbar sind. Denn es warten noch eine Menge Schurken da draußen im Großstadtdschungel… Thwip!