Die zarte, weiß gewandete Primaballerina, die die Schwanenkönigin in Tschaikowskis "Schwanensee" tanzt, gilt als Urbild der Anmut und Unschuld, Vorbild für unzählige Elevinnen. Ihre reine Schönheit verzauberte den Prinzen im ersten Akt des Balletts, der ihr darauf hin ewige Liebe schwor. Diesem idealistischem Bild traute schon Tschaikowski nicht, der dem Prinzen im dritten Akt ihr negatives Ebenbild schickte, das ihn mit ihren Verführungskünsten nicht weniger zu überzeugen vermochte. Gewisse inszenatorische Freiheiten im letzten Akt, führten in der Regel dazu, dass diese Zwischenphase als kurzfristiger Irrtum des Prinzen in Vergessenheit geraten konnte, dabei traf Tschaikowski damit einen Kerngedanken männlicher sexueller Fantasien - die Kombination der Frau als Jungfrau und Hure.
Als "Hure" muss sich auch Nina (Natalie Portman) bezeichnen lassen, nachdem sie die Rolle als Schwanenkönigin in der neuen Inszenierung von Thomas Leroy (Vincent Cassel) bekommen hatte. Nicht nur, dass Leroy zuvor seine frühere Favoritin Beth (Winona Ryder) abserviert hatte, er hatte auch die anderen Solo-Tänzerinnen vortanzen lassen und damit eine Atmosphäre der Konkurrenz geschaffen, die Ressentiments schüren musste. Dabei könnte Nina nicht weiter von einer "Hure" entfernt sein, so ehrgeizig und diszipliniert arbeitete sie seit Jahren auf diese Rolle hin, gefördert und kontrolliert von ihrer strengen Mutter (Barbara Hershey), einer ehemaligen Balletttänzerin. Ihr fehlt die Leichtigkeit und der Mut, sich fallen zu lassen - die Voraussetzung für eine Fehlbarkeit, aus der die Verführungskunst entstehen kann.
Deshalb "Black Swan" allein auf den sexuellen Hintergrund zu reduzieren, greift zu kurz, denn Aronofsky zerstört schnell den Eindruck von Jungfräulichkeit oder Makellosigkeit. Schon in einer der ersten Szenen zeigt Aronofsky nicht nur die Ästhetik des Spitzentanzes, sondern auch das Verrenken der Glieder, die kaputten Zehen und das Herrichten der Ballettschuhe. Allein der Blick in die Gesichtszüge von Ninas Mutter genügt, um die Gefahren des Ehrgeizes und der daraus resultierenden Enttäuschung zu erkennen, die sich für immer in ihren Mundzug eingeprägt haben - ein Schicksal, dass auch Nina droht.
Dahinter verbirgt sich viel mehr der klassische künstlerische Konflikt, der im Idealfall technische Perfektion und freie Inspiration kombiniert - zwei sich scheinbar ausschließende Aspekte. Wenn Thomas Leroy von Nina fordert, sowohl den weißen, als auch den schwarzen Schwan überzeugend zu verkörpern, dann spiegelt das nicht nur die sexuelle Fantasie wider, sondern den Wunsch nach einer Komplexität in einem künstlerischen Akt, der unmittelbar zum Film führt - und damit zu Regisseur und Autor Darran Aronofsky selbst.
"Black Swan" atmet in allen seinen Elementen die Perfektion, die Nina auch für sich anstrebt. Beginnend mit einer Natalie Portman, die ein Jahr lang trainiert hat, um überzeugend eine Primaballerina verkörpern zu können, über eine Ausleuchtung und Ausstattung, die ständig mit den Gegensätzen von Schwarz und Weiß spielt, bis zu einem exakt kalkulierten Fortschreiten von Ninas Irrsinn, der den Film zunehmend zwischen Realität und Wahn wechseln lässt, bis man beides nur noch schwer auseinander halten kann. Selbst Vincent Cassels sexuelle Übergriffe wirken kalkuliert, ebenso wie Mila Kunis offen gelebte Sexualität, mit der sie zu Ninas gefährlichster Konkurrentin Lily aufgebaut wird. Die gleiche Kühle, die Nina umgibt, strahlt Aronofskys gesamter Film aus.
Man könnte das als geniale Übereinstimmung feiern, aber diese Art der Inszenierung ist bei Aronofsky Methode, dessen Filme immer auf eine jahrelange Vorbereitung zurück sehen können, die sich in einem bewusst künstlerischen Gestus zeigen, dem genau die improvisatorische Leichtigkeit und der Mut zum Bruch fehlt, die auch Nina abgehen. So überzeugend ihr Charakter, ihr Wunsch nach Perfektion und der daraus entstehende Konflikt heraus gearbeitet wird, so verklemmt bleibt der Film bei seinen sexuellen Szenen und Anspielungen. Es gelingt Aronofsky nicht, die dunkle, verwerfliche Seite des "Schwarzen Schwan" spürbar werden zu lassen, trotz aller Register der Selbstzerstörung, die Natalie Portman hier zieht - und trotzdem scheitert der Film nicht.
Zu Verdanken hat das Aronofsky Tschaikowskys Musik, die er lange sparsam einsetzt, bevor sie im letzten Akt des Films die Szenerie beherrscht. Im Zusammenspiel mit dieser Emotionalität erreicht Nina das Endstadium einer Hysterie, das sich - trotz aller inszenatorischer Kalkulation - auf den Betrachter übertragen kann und den Film nicht nur zu einem konsequenten, sondern überzeugenden Ende führt - dem Verschmelzen von Perfektion und Inspiration (8/10).