Zu dem Zeitpunkt, zu dem ich dies schreibe, bin ich über 50 Jahre alt. Geboren und aufgewachsen bin ich in Deutschland, in einer typischen und heilen Mittelstandsfamilie. Frühe Erinnerungen an Fernsehbilder beinhalten natürlich die Schweinchen Dick-Show, Lassie und Raumschiff Enterprise, ich kann mich aber auch erinnern an die Bilder aus der, nennen wir es mal, Außenwelt. Fahndungsplakate von Terroristen waren im Alltag allgegenwärtig, und abends gab es Mord und Totschlag in der Tagesschau. Ich kann mich, glaube ich, ganz ganz vage an die letzten Bilder aus dem Vietnamkrieg erinnern, vor allem natürlich aber an den sogenannten deutschen Herbst, den Herbst 1977. An was ich mich auch noch erinnern kann sind die Bilder zum Schlagwort OPEC-Konferenz.
Politik hat mich immer interessiert, auch schon als Jugendlicher. Ich bin in einer durchschnittlichen Stadt in Mitteldeutschland groß geworden, die u.a. bekannt ist durch ihre Kunstakademie. In diesem Kontext bin ich bei Filmen wie dem BAADER-MEINHOF-KOMPLEX (BMK) oder eben einem Film über Carlos natürlich Feuer und Flamme. Damals war ich zu klein um zu verstehen was da passierte, heute fehlen oft die Hintergrundinfos oder auch einfach nur die Details. Also wird es dann letzten Endes eine Mischung aus einem (hoffentlich gelungenem) Film und anschließender Internet-Recherche. Bei den Schlagworten, die ich in den letzten Tagen in die Wikipedia eingegeben habe, dürfte ich im Moment in den Top Ten der NSA einen der vorderen Plätze belegen …
Nach dem BMK, der mich in sehr hohem Maße anspricht, und der mir viel politisches Denken zurückgegeben hatte, nun also Carlos. Den Film gibt es in einer 3 ½-stündigen Kino- sowie einer 5 ½-stündigen Fernsehfassung. Über erstere kann ich nichts sagen, hier geht es um die Fernsehversion, bestehend aus 3 DVDs.
DVD 1: Im Paris des Jahres 1973 bewegt sich der Venezolaner Ilich Ramírez Sánchez in der linken Szene. Er sympathisiert, wie alle Linken damals, mit der PFLP, dem bewaffneten Arm der PLO, ist überzeugter Marxist (konnte man damals noch sein), hatte eine Zeitlang in Moskau studiert, und lebt jetzt das typische Leben eines Links-Bohémes der damaligen Zeit. Über Veränderungen reden, aber vor jeder Veränderung zurückschrecken. Der Film beginnt damit, dass Sánchez diesen Schritt vollzieht: Er möchte Veränderungen durchführen, eine Revolution machen. Er gibt sich den Kampfnamen Carlos (nach dem venezolanischen Präsidenten Carlos Andrés Pérez, der die US-amerikanisch geführte Ölindustrie in Venezuela verstaatlichte) und möchte mit der PFLP bewaffnete Aktionen machen. Sein Kontaktmann und zunehmend auch Freund ist dabei Michel Moukharbel (Fadi Abi Samra), der den Kampf in Westeuropa im Wesentlichen leitet. Carlos bindet seine Freundin (Juana Acosta) dabei mit ein und beginnt mit Kurieraufträgen. Als ein schlecht geplanter Anschlag auf ein Flugzeug der El-Al schief geht wird sehr schnell klar, dass Carlos ein guter Stratege und Kämpfer ist, da er die Probleme des Anschlags als einziger gesehen hatte, und auch weil er als einziger in der Lage ist, Aktionen durchzuführen, um seine Kameraden aus dem Gefängnis zu holen. In dieser Zeit lernt er auch Johannes Weinrich (Alexander Scheer) kennen, ein Mitglied der deutschen Revolutionären Zellen, der ihn dann viele Jahre als seine rechte Hand begleiten wird. Trotz aller Vorsicht gerät auch Carlos in das Visier des französischen Innengeheimdienstes, und bei einer Kontrolle erschießt er 2 Beamte des DST sowie seinen Freund Moukharbel, der ihn verraten hat. Der Leiter der PFLP, Wadi Hahddad (Ahmad Kaabour), zieht Carlos für einige Zeit aus dem Verkehr, setzt ihn dann aber bei einer großen Aktion als Führer ein: Die Entführung der Ölminister der OPEC im Dezember 1975 in Wien. Teil 1 endet mit der Straßenbahnfahrt(!) der Terroristen zum OPEC-Gebäude.
DVD 2: Im Wesentlichen wird hier minutiös der Ablauf der Entführung der Ölminister gezeigt. Der Überfall auf das Gebäude, die Geiselnahme, der Flug nach Algier, weiter nach Tripolis, zurück nach Algier … Und dann der Punkt, an dem Carlos den hehren Weg des Revolutionärs verlässt und sich für das Geld und das Leben entscheidet. Die PFLP verstößt ihn daraufhin und er beginnt ein Leben als freischaffender Terrorist. Er gründet seine eigene Organisation, den bewaffneten Arm der arabischen Revolution, und sucht sich neue Auftraggeber. Teil 2 endet damit, dass er einwilligt, für den syrischen Geheimdienst zu arbeiten.
DVD 3: Das Leben im Untergrund ist nicht einfach. Seine Frau Magdalena Kopp (Nora von Waldstätten) bringt es auf den Punkt: Sie hatte von einem Leben als Revolutionärin geträumt, wollte bewaffnete Aktionen durchführen und frei sein. Stattdessen ist sie in einer Villa in Budapest eingesperrt und muss ihrem Mann gehorchen, der zum einen ihr Kommandeur ist und zum anderen als Lateinamerikaner aus einer Macho-Gesellschaft kommt, die mit Frauen gar nicht anders umgehen kann. Teil 3 zeigt somit recht ausführlich, wie sich das Leben im Untergrund anfühlt: Einsam, paranoid, leer. Die Bedeutung Carlos’ schwindet im Lauf der 80er-Jahre, und mit dem Mauerfall 1989 und dem Untergang der Sowjetunion verliert er auch die Unterstützung seiner syrischen Freunde. Magdalena verlässt ihn, er muss in den Sudan flüchten, und Einsamkeit und Bedeutungslosigkeit werden geradezu greifbar.
Eines vorweg: Der Film ist spannend, ist gut erzählt, die schauspielerischen Leistungen sind allererste Sahne, und ich habe mich keine Sekunde gelangweilt. Wer sich für (linke) Politik interessiert, mit Schwerpunkt auf den 70er-Jahren, für den ist dieser Film ein Pflichtprogramm. Allerdings sollte man entsprechendes Vorwissen mitbringen. Und das ist dann auch einer von zwei Punkten, die ich dem Film ankreiden muss: dass die Aktionen Carlos’ oft zu kurz kommen im Gegensatz zu seinem privatem Leben. Es wird nicht klar, warum Carlos über einen so langen Zeitraum hinweg der meistgesuchteste Terrorist der Welt war. Man sieht wie er eine Bombe in einen Drugstore wirft, man sieht ihn 2 DST-Beamte erschießen, und man sieht die OPEC-Entführung. Nach der OPEC-Entführung ist, wenn man dem Film folgt, weitgehend Schluss. Es wird von Aktionen nur noch geredet, aber offensichtlich passiert nichts mehr. Dass es hier noch weiterging sagt mir die Wikipedia, aber der Film verlässt weitgehend den bewaffneten Kampf und konzentriert sich eben auf das Privatleben. Eine sehr lange Szene zeigt die ausgelassene Hochzeitsfeier Carlos’ mit Magdalena, und auch den kotzenden Johannes Weinrich. Soll das einen Zugang zur Person Carlos ermöglichen? Der Mensch an sich wird gut beleuchtet, und wer im Teil 1 gut aufpasst erfährt auch ein wenig von Carlos’ Vorgeschichte, aber ab der Hälfte von Teil 2 wird es mir teilweise ein wenig ZU privat.
Womit wir zum zweiten Kritikpunkt kommen, den späteren Jahren. Auch beim BMK hat mich schon sehr gestört, dass die zweite Hälfte der 70er-Jahre im Zeitraffer abgehandelt wurde, Schlaglichter auf namenlose Menschen gesetzt werden die über Flughäfen rennen, mit Autos fahren, Waffen transportieren und irgendwann verhaftet werden. Carlos funktioniert ab einem bestimmten Punkt leider genauso: Wer ist die Frau, die ein Auto mit Sprengstoff von Jugoslawien bis nach Paris fährt? Ist in den 5 Jahren zwischen der Geburt seiner Tochter und dem Mauerfall denn gar nichts Sehenswertes passiert? Hier hätte ich mir mehr Hintergrund gewünscht zu Personen, zu Anschlägen, zum Zeitgeschehen. Stattdessen sehen wir Carlos wie er in seiner Villa sitzt und säuft, Sex hat mit irgendwelchen Frauen, und zwischen den verschiedenen Staatssicherheitsdiensten versucht zu navigieren.
Was Assayas hingegen sehr gut gelungen ist, ist die Entwicklung vom revolutionären Kämpfer hin zum Gangster. Die Korrumption während der Geiselnahme in Algier ist der Beginn, irgendwann trägt er nur noch Anzüge, dann kommt der erste Mercedes … Auch die Bilder dazu passen: Ramírez (der Schauspieler) trägt seine Plauze vor sich her, reißt Frauen auf, unterdrückt dabei seine eigene Frau, und es gibt eigentlich kaum noch einen Unterschied zu einem bourgeoisen Spießbürger. Was er natürlich mit der Knarre in der Hand von sich weisen würde. Er lebt in einer Parallelwelt, die aus einer Revolution und schönen Frauen besteht, und er verweigert sich dem Blick aus dieser Welt hinaus. 1990, nach dem Mauerfall, erklärt Weinrich ihm, dass es keinen Feind mehr gibt, und dass der Krieg vorbei ist. Und dass sie ihn verloren haben. Aber so recht glauben mag er das nicht, was übrigens auch zu den Aussagen passt, die der echte Carlos heute noch im Gefängnis von sich gibt.
Die wie schon erwähnt superben Schauspieler unterfüttern diese Entwicklung hervorragend. Das Zeitkolorit stimmt immer, die Schauplätze sind authentisch (gedreht wurde in, ich glaube, 7 Ländern), und das einzige was da noch ein wenig stört ist der Soundtrack, der zeitlich nicht passt (aber dafür sehr sehr gut ist).
Ein langer Text zu einem langen Film, der mich 3 Abende lang beschäftigt hat, und auch noch eine Zeit beschäftigen wird. Beim Stöbern im Internet habe ich Buchausschnitte von Hans-Joachim Klein gefunden und festgestellt, dass die Gespräche im Vorfeld der OPEC-Geiselnahme offensichtlich genauso so, in diesem Wortlaut, stattgefunden haben, zumindest laut Kleins Erinnerungen. Und so etwas empfinde ich dann schon als sehr spannend.
Wem PUBLIC ENEMY No. 1 über Jacques Mesrine gefallen hat (Stichwort Biopic), und wer mit dem BMK etwas anfangen konnte, der ist hier auf jeden Fall auch richtig. Klar, der Film benötigt etwas Zeit zum Schauen, und mitdenken sollte man auch können. Zusammen mit einer Internet-Recherche kommt dabei aber auf jeden Fall ein zeitgeschichtliches Erlebnis heraus, dass zumindest für meine Generation, die mit diesen Namen groß geworden ist, das ein oder andere Aha-Erlebnis bietet (Ach, so war das? So ist das passiert?). Und der Film weckt Interesse, sich vielleicht weiter mit diesen Dingen zu beschäftigen, zum Beispiel mit den Lebenserinnerungen von Hans-Joachim Klein. Aber nicht über Amazon bestellen, gelle …