Als "Carlos" Mitte der 90er Jahre verhaftet wurde, wurde das in den Medien als Sensation gepriesen - der gefährliche Terrorist und vielfache Mörder, einer der meist gesuchten Verbrecher seiner Zeit, war endlich gefasst worden. Doch wirklich interessiert war nur eine Minderheit an dieser Nachricht, denn Carlos war schon seit Jahren aus dem Focus der Berichterstattung verschwunden und galt umgangssprachlich als "Phantom". Allerdings nicht in der Hinsicht, dass er als aktiver Terrorist immer wieder der Polizei hätte entkommen können, sondern weil der Öffentlichkeit nicht mehr bekannt war, wo er sich befand und womit er sich beschäftigte.
Wenn sich Regisseur und Drehbuchautor Olivier Assayas dieses noch nicht besonders alten Mannes annimmt, der sich seit 15 Jahren in Frankreich im Gefängnis befindet, stellt sich die Frage nach der Intention für einen Film, der zudem mit einer Laufzeit von fünfeinhalb Stunden jeden Rahmen sprengt und den er mit der Bemerkung beginnt, dass nur wenige Aspekte darin, vor allem betreffend des Umgangs der Terroristen unter einander, tatsächlich bewiesen sind. Warum - so lässt sich diese Frage fortsetzen - sollte sich ein Betrachter so ausführlich mit einem Mann beschäftigen, der längst von anderen Terroristen hinsichtlich seines Bekanntheitsgrades abgelöst wurde und dessen aktive Zeit schon lange vergangen ist?
Vielleicht weil Assayas diese Vergangenheit mit Detailfreude stimmig wieder auferstehen lässt. Er beginnt in Paris, Anfang der 70er Jahre, und befindet sich schon mitten drin. In Folge der Studentenunruhen der späten 60er Jahre herrscht Aufbruchstimmung und der Wunsch nach gesellschaftlicher Veränderung und der junge Venezuelaner Ilich (Edgar Ramirez), der sich noch nicht "Carlos" nennt, ist genau der richtige Mann für diese Zeit. Er ist ein Hasardeur, vielsprachig, rhetorisch begabt, ein gut aussehender Mann und Frauenheld, der dank seines marxistisch geprägten Elternhauses auch über das ideologische Vokabular verfügt. Schon in der ersten Szene, als er mit einer alten Freundin über die Situation in Südamerika diskutiert, wird deutlich, dass ihm das Reden und Protestieren aber nicht mehr genügt. Anstatt gegen die Diktaturen in seiner südamerikanischen Heimat anzutreten, wovon er sich wenig Erfolg verspricht, hat er sich der Gruppe um den Araber Haddad (Ahmad Kaabour) angeschlossen, die gegen den Staat Israel und dessen Hauptverbündeten USA Anschläge verübt, weshalb er den Decknamen "Carlos" annimmt.
Assayas variiert seine konsequent lineare Erzählweise damit, dass er Carlos' Werdegang in unterschiedliche zeitliche Rhythmen gliedert - mal zählt er Ereignisse fast stakkatoartig auf, überspringt ganze Zeiträume, um sich dann sehr lange, in einer fast minutiösen Schilderung, wesentlichen Momenten zu widmen. Sehr schön erkennbar wird das in der Anfangsphase des Films, dessen Handlung ganz im Geist der Studentenbewegung abzulaufen scheint. Carlos driftet zwischen wechselnden Freundinnen, amateurhaft geplanten Anschlägen und dem Versuch, mehr Einfluss beim Chef der Terrorgruppe zu bekommen – und alles wirkt noch wie ein großes Abenteuer. Bis zu einem Abend in einer Pariser Wohnung, in der Carlos mit anderen südamerikanischen Studenten feiert und politische Gesänge zur Gitarre erklingen. Alles hat einen friedlichen Anschein, auch als zwei Polizisten kommen und freundlich nach Carlos fragen. Es stehen zu diesem Zeitpunkt noch keine Schwerverbrechen im Raum und selbst als die Polizisten den Mann nach oben holen, der Carlos identifizieren soll, bedeutet das noch nicht, dass dieser deshalb verhaftet würde – im Gegenteil tappt die Polizei noch ziemlich im Dunklen. Doch es kommt zur Eskalation und damit zum Ende der Unschuld.
Was sich hier so deutlich anhört, kristallisiert sich im Film erst mit der Zeit heraus, denn Assayas kommentiert und beurteilt nicht, sondern erzählt die Geschichte des Carlos fast vollständig aus dessen Blickwinkel. Nur in ganz wenigen Momenten beobachtet der Film Menschen, die sich zu diesem Zeitpunkt nicht in der Nähe des Protagonisten befinden. Dadurch bekommt der Film - auch wenn er im Detail ausgedacht ist - einen authentischen Charakter, denn er benötigt keine Verurteilung oder Schuldzuweisungen. Im Gegenteil gelingt hier das Kunststück, einen Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, dessen Brutalität und Rücksichtslosigkeit nur wenig Sympathien erzeugen würden, der aber gleichzeitig über so viel Charisma verfügt, dass nicht nur verständlich wird, warum er so viele Menschen um sich scharren und immer wieder motivieren konnte, sondern warum auch der Betrachter nie das Interesse an seiner Person verliert.
In diesem Zusammenhang ist die lange Laufzeit enorm wichtig, denn erst dadurch verlieren die Veränderungen in seiner terroristischen Karriere jeden gewollt, abrupten Charakter. Der Verlust der eigenen ideologischen Identität, aber auch die Ausbeutung des Engagements der Mitkämpfer, stellt sich fast unmerklich erst mit der Zeit ein. Ähnliches gilt für seinen Aufstieg und Niedergang, wenn man sein Leben überhaupt in solch konkret formulierte Phasen einteilen will. Aber unabhängig davon, wie man diese bewertet, bleibt ein Gefühl dafür zurück, mit welcher Langsamkeit und Eintönigkeit ein Dasein einher geht, dass davon bestimmt ist, unentdeckt handeln zu müssen. Von außen betrachtet, stehen immer nur die Anschläge im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, die damit eine Aufgeregtheit vermitteln, die mit dem realen Leben der Attentäter, die oft Jahre im Untergrund verstreichen lassen müssen, bevor sie wieder aktiv werden können, nicht entspricht.
In dieser Konstellation liegt auch die Aktualität des Films, der durch seine genaue Beobachtung eines Lebens im Untergrund – und damit völlig unabhängig davon, aus welcher Position heraus man dieses bewertet – generell die unter diesen Bedingungen zwangsläufigen Veränderungen im Charakter beschreibt. Besonders der Überfall auf die OPEC in Wien, Mitte der 70er Jahre, macht deutlich, wie sich Carlos vom emotionalen Revolutionskämpfer zum professionellen Auftrags-Terroristen entwickelt. Allein dieses zentrale Ereignis in Wien, das Assayas von der Vorbereitung, über die Durchführung bis zur Flucht fast 90 Minuten lang schildert, hätte sowohl in seiner Intensität, als auch im Spannungsbogen für einen kompletten Film genügt, aber nicht für die Intention, die Assayas hier verfolgt. Ihm ist es zwar einerseits wichtig, zu zeigen, wie professionell und mit Gefühl für die Situation Carlos handeln konnte, worin auch der Grund lag, warum er, im Gegensatz zu den meisten seiner Mitkämpfer, jedesmal entkam, andererseits vermeidet er durch die Einbettung solcher Aktionen im Gesamtkontext jede Heldenattitüde.
Besonders durch die Hinzuziehung Magdalenas Kopps gewinnt dieser Aspekt an Tiefe. Nora von Waldstätten spielt Carlos zukünftige Frau extrem cool, ganz heraus aus der Position der feministischen Kämpferin mit bürgerlicher Herkunft. Sie verliebt sich ihn und kämpft an seiner Seite, aber ihre Rolle macht auch deutlich, wie sehr Carlos vor allem auf sich selbst fixiert ist. Zunehmend verliert er seinen Einfluss auf seine Umgebung, die wesentlich stärker unter den Misserfolgen und der wachsenden Verfolgung durch die Polizeibehörden leidet als er. Dank guter Beziehungen kann er sich noch lange halten, aber er spielt keine wirkliche Rolle mehr im internationalen Terrorismus, der sich im hohen Tempo verändert - und der auch nicht aussterben wird, so lange Menschen Hass auf andere Menschen entwickeln, egal ob gerechtfertigt oder nicht.
Olivier Assayas Film kann diesen Kreislauf nicht durchbrechen und will es auch gar nicht, aber er nimmt den „Helden der Revolution“ die Romantik, und lässt spüren, dass die emotionale Aufbruchstimmung schnell einer professionellen Einstellung weichen muss, wenn man nicht nach kurzer Zeit auf der Strecke bleiben will. Carlos gilt heute als einer der Ersten, der das verstanden hatte. Darin liegt letztlich der entscheidende Aspekt dieses Film, der deutlich macht, dass ein funktionierender Terrorismus nach ähnlichen Mechanismen vorgehen muss, wie der von ihnen bekämpfte Kapitalismus oder Imperialismus – und dabei seine Mitstreiter genauso ausbeutet, wenn auch unter dem Deckmäntelchen der Ideologie.(9/10)