Unter Zukunftsangst versteht man das unbehagliche Gefühl, nicht zu wissen, wo man in absehbarer Zeit steht, die Furcht vor einem Weg, dessen Ziel für niemanden vorhersagbar ist und der durch jede Entscheidung und unzählige äußere Einflüsse bestimmt wird. Zu diesen Einflüssen zählen natürlich auch politische Veränderungen – man denke zum Beispiel an die sechzehn Millionen Menschen, deren so sicher geglaubte Existenz nach den Entwicklungen des Jahres 1989 einen radikalen Einschnitt erlebte. Entwicklungen, die wenige Jahre zuvor allenfalls eine Utopie waren.
Eher um eine Dystopie handelt es sich bei Lars Kraumes neuem Film Die kommenden Tage, der aus der weltpolitischen Konstellation des Jahres 2010 ein worst case-Szenario konstruiert: Zwei Jahre in der Zukunft tobt in Saudi Arabien der vierte Golfkrieg, gegen die immer größer werdende Flüchtlingswelle aus Afrika wissen sich die EU-Staaten nur durch den Bau einer riesigen Grenzmauer zu helfen, die Schere zwischen arm und reich ist so weit gespreizt wie nie zuvor. In den folgenden Jahren sollen die unzähligen gesellschaftlichen Konflikte auch auf deutschem Boden in einem offenen Bürgerkrieg eskalieren.
Inmitten dieser düsteren Zeit versuchen eine Handvoll Menschen, ihren Platz im Leben zu finden: Laura (Bernadette Heerwagen) möchte nach ihrem Philosophiestudium promovieren und möglichst bald Kinder haben. Ihre Schwester Cecilia (Johanna Wokalek) lässt sich von ihrem Freund Constantin (August Diehl) immer tiefer in den Untergrund des politischen Widerstands ziehen, ihr emotional verkrüppelter Bruder Philip (Vincent Redetzki) ertränkt seinen Frust im Alkohol, das Familienleben wird durch Lügen und Misstrauen bestimmt. Als Laura Hans (Daniel Brühl) kennenlernt, scheint sich zunächst alles zum besten zu wenden, doch die nächsten Schicksalsschläge sollen nicht lange auf sich warten lassen.
Ab hier folgt die Handlung abwechselnd Laura und ihrer Schwester. Während erstere sich zunächst von keinem Rückschlag von ihren Zielen abbringen lässt gerät letztere immer weiter in einen Strudel aus idealistischer Verblendung und Identitätsverlust. Anders als Constantin, der sich nach und nach vom politischen Aktivisten zum skrupellosen Untergrundkämpfer wandelt und mit Hilfe einer nicht näher porträtierten Schattenorganisation die gesellschaftliche Grundordnung umkrempeln möchte. Dass es zwischen ihm und Laura immer wieder knistert heizt die Situation noch zusätzlich an.
Die Entwicklungen der insgesamt acht Jahre umfassenden Geschichte ergeben sich völlig schlüssig aus den mehr oder weniger weisen Entscheidungen der Protagonisten und wirken deshalb trotz des fiktionalen Rahmens sehr lebensnah, auch wenn so mancher Dialog allzu gewollt bedeutungsvoll daherkommt. Diese kleine Schwäche fällt unter dem Strich aber kaum ins Gewicht, da die Schauspieler weitesgehend einen sehr guten Job machen: Bernadette Heerwagen verkörpert die charakterlich gefestigte Laura überzeugend und mit starker Ausdruckskraft, August Diehl glänzt als manipulativer Soziopath und Johanna Wokalek variiert hier nur geringfügig ihre Rolle der Gudrun Ensslin aus „Der Baader-Meinhof-Komplex“, kann der emotional desorientierten Cecilia aber doch genügend eigene Facetten abgewinnen. Daniel Brühl fällt dagegen deutlich ab, muss hier aber auch eine merkwürdig distanziert wirkende Figur darstellen, die einen Grossteil der schwächeren Dialogzeilen in den Mund gelegt bekommt.
Trotz dieser kleinen Makel überzeugt Die kommenden Tage mit einer glaubwürdigen Dramaturgie, lebensnahen Figuren und einer gut ausgearbeiteten subversiven Erzählweise, in der die Veränderung der politischen Bedingungen stets als Spiegelbild seelischer Befindlichkeiten in Zeiten eines großen Wandels zu betrachten sind. Ein Wandel, dem das Leben in all seinem Chaos immer und in jeder Lage ausgesetzt ist. Auch wenn wir das Gefühl haben, dass alles so bleibt, wie es ist.