Review

Der Mönch Gabriel erschafft in einer vergangenen Epoche eine Statue der Wahrheit. Sie ist wunderschön, aber sie ist auch nackt, denn die Wahrheit ist immer nackt. Als Gabriel die Statue präsentiert kommt es zu einem Skandal, denn die Menschen erschrecken vor der Nacktheit der Wahrheit, und sie töten Gabriel
In der Gegenwart predigt der Kirchenmann Gabriel über Heuchelei, was niemanden in seiner Gemeinde wirklich interessiert. Nachdem die Menschen seine Kirche verlassen haben schläft Gabriel ein. Im Traum besucht er gemeinsam mit der nackten Wahrheit die Mitglieder seiner Gemeinde und hält ihnen den Spiegel der Wahrheit vor: Der Politiker, auf dessen Bühne das Schild „Ehrlichkeit ist unser Fundament“ steht, zeigt sich im Spiegel als bestechlich. Die Gesellschaftslöwen akzeptieren die Wahrheit nur, wenn sie in ihre eigenen  Vorstellungen hineinpasst. Die Liebenden erweisen sich als herzlos (er) und geldgierig (sie). Die Familie, die den Tod des kleinen Mädchens betrauert, hat ebendieses Mädchen mit Genussmitteln zu Tode gebracht, während der halbwüchsige Junge über Sex gelesen hat (und der Zusammenhang angedeutet wird, dass die Beschäftigung des Jungen zum Tod des Mädchens beigetragen haben könnte). Und als am Ende der Prediger, der sich so über Heuchelei mokiert, und der andere Menschen zumindest in seiner Fantasie mit der nackten Wahrheit konfrontiert, als dieser Mann tot aufgefunden wird, da hat er eine Sonntagszeitung in der Hand –Eine Zeitung, die am Sonntag, dem Tag des Herrn, gedruckt wird, und die allerlei weltliche Dinge verbreitet ...

Die überzeugte Katholikin Lois Weber dreht also einen Film über Heuchelei. Über die Nacktheit der Wahrheit und darüber, dass Menschen diese Wahrheit grundlegend ablehnen. Bezeichnend ist die Szene, in welcher der Prediger mit wenigen Folgenden einen steilen und mühseligen Pfad auf einen Berg erklimmt, während unten die Menschenmassen vorbeiziehen. Manche Frauen wollen dem Prediger folgen, werden aber von ihren Männern abgehalten. Andere schütteln nur den Kopf, wieder andere sehen den Weg nach oben nicht einmal, sondern gehen ins Gespräch vertieft einfach weiter. Aber Lois Weber ist der Kirche nicht bedingungslos hörig, das ist am Schlusstwist klar zu erkennen, und eigentlich, ja eigentlich könnte HYPOCRITES auch heute noch herrlich böse und sarkastisch sein. Wenn Gabriel und die nackte Wahrheit die Politiker besuchen, die Gesellschaft oder die Liebenden, und die Wahrheit hinter all den schönen Worten erkennen müssen, dann ist das im Jahre 2023 genauso aktuell wie im Jahre 1913. Genauso wie die Hinrichtung Gabriels durch den aufgebrachten Pöbel (und die Kirchenleute!), weil diese die nackte Wahrheit nicht akzeptieren wollen.

Aber leider hat Lois Weber sich entschieden, den Film extrem ruhig und theatralisch aufzubauen. Die Zwischentitel zitieren John Milton und legen auch sonst ein sehr altmodisches Englisch an den Tag, und die Theatralik, die übertriebenen Posen vor allem Gabriels, der am Übel der Welt jammernd und überdramatisierend zugrunde geht, nehmen der Geschichte viel von ihrer Würze und ziehen alles ein klein wenig ins Komische. Was dann zwar zum Ende passt, aber leider eben auch die Aussage verwässert. Der salbadernde Habitus Gabriels ist schnell nervig, wirkt völlig überzogen und damit fast ein wenig wie eine Karikatur auf sich selbst, was der Grundaussage des Films leider zuwider läuft.

Vom cineastischen Standpunkt gesehen ist HYPOCRITES ein Meisterwerk. Die halbdurchscheinende Wahrheit, die nur dann klar zu sehen ist wenn sie ihren Spiegel zückt, während genau dann die reale Welt ins Diffuse zurücktritt, ist wie ein Vexierbild mal zu sehen und mal nicht. Wie im wirklichen Leben halt auch. Nur die Narration und die Darstellungsweise, die sind für einen Zuschauer 110 Jahre nach der Entstehung des Films doch ein wenig ermüdend. Oder einigen wir uns zumindest auf gewöhnungsbedürftig. Wenn Lois Weber den Schwung, den sie in SUSPENSE an den Tag gelegt hat, hier ebenfalls eingesetzt hätte, dann hätte HYPOCRITES das Zeug zum Meisterwerk gehabt …

Details
Ähnliche Filme