Es war schön als Zwölfjähriger. Ich führte ein unbeschwertes Leben. Klar, es gab die Schule, die einen mitunter gewaltig auf Trab halten konnte, aber es gab ja auch die langen Sommerferien ohne Hausaufgaben. Ich erinnere mich daran, mich oft draußen im Garten aufgehalten zu haben. Ich traf mich mit Klassenkameraden und ging bei schönem Wetter auch mit ihnen durchs Dorf, um die Umgebung zu erkunden. Das empfand ich als wahnsinnig aufregende Zeit, obwohl sich nichts ereignete, was ich rückblickend als spektakulär bezeichnen würde. Wie viel Aufregung hätte ich also erst verspürt, wenn ich die Möglichkeit erhalten hätte, mit eigenen Augen eine Leiche zu sehen?
Wahrscheinlich mindestens so viel wie die vier Jungen in „Stand by Me“. Einer von ihnen hat aus einem heimlich mitgehörten Gespräch erfahren, dass sein älterer Bruder in einem nahe gelegenen Waldstück die Leiche eines vermissten Schülers gefunden hat. Während der noch überlegt, ob er sie melden soll, ist diese Neuigkeit den Freunden ein zweitägiger Fußmarsch wert. Abenteuerlust und die Aussicht, durch den Fund zu lokalen Helden zu werden, treiben sie an.
Schnell stellt sich heraus, dass der Trip für die Jungen auch eine willkommene Flucht aus ihrem Alltag ist, denn jeder der sehr unterschiedlichen Charaktere hat sein Päckchen zu tragen: Gordie (Wil Wheaton) wird seit dem jähen Tod seines Bruders von seinen Eltern ignoriert und fühlt sich minderwertig im Schatten des Verstorbenen, Chris (River Phoenix) leidet unter dem schlechten Ruf seiner Familie, Teddy (Corey Feldman) ist sehr geprägt von seinem im Zweiten Weltkrieg aktiven Vater, den er einerseits verehrt, der aber andererseits gewalttätiges Verhalten selbst gegen seinen Sohn an den Tag legt, und der gleichfalls pummelige wie ängstliche Vern (Jerry O’Connell) ist selbst in der Jungengruppe ein Außenseiter. Was das Quartett noch nicht weiß: Das Ende ihrer Reise wird vor allem für Gordie und Chris einen Wendepunkt in ihrem Leben markieren, den Übergang vom unbeschwerten Kind zum verantwortungsbewussten Teenager. Sie werden sich mit einigen unangenehmen Fragen beschäftigen, und jeder Einzelne von ihnen wird Tränen vergießen, bis der vorher erhoffte Ruhm völlig unwichtig geworden ist.
Rob Reiner inszeniert die auf der Stephen-King-Erzählung „Die Leiche“ beruhende Geschichte mit aller gebotenen Sensibilität und wirft uns in einen sonnigen Sommer einer ruhigen amerikanischen Kleinstadt Ende der 50er-Jahre – garniert mit zeitgenössischen Popsongs wie „Lollipop“ – zurück, der so authentisch wirkt, dass man regelrecht den unter den Füßen der Jungen knirschenden Sand inmitten flirrender Hitze spüren kann. Dazu bei tragen auch die realistischen Dialoge, in denen Mädchen noch eine eher untergeordnete Rolle spielen und banale Fragen wie die, ob Goofy ein Hund ist oder nicht, zu angeregten Diskussionen führen. Deutlich werden dabei auch die unterschiedlichen Bildungsgrade: Während sich die besten Freunde Gordie und Chris damit auseinandersetzen, ob sie gemeinsam aufs College gehen können, unterhalten sich Teddy und Vern über einen hypothetischen Kampf zwischen Superman und Mighty Mouse und wer daraus als Sieger hervorgehen würde. Dennoch sind sie ein eingeschworener Haufen, der sich bei allen Frotzeleien und Streitereien untereinander stets zusammenrauft, wenn etwa der Schrottplatzbesitzer Teddy mit Beleidigungen gegen dessen Vater zur Weißglut treibt.
Auf große Schauwerte verzichtet „Stand by Me“ vollständig, widmet sich vielmehr dankenswerterweise fast ausschließlich dem Abenteuer und den dabei entstehenden Konflikten und Problemen der Jungenclique. Äußere Spannungsmomente hat der Film auch gar nicht nötig, weil die Figuren dafür zu gut geschrieben sind. Mit der Szene auf der Eisenbahnbrücke, auf der es fast zu einer Katastrophe kommt, gibt es einen pulstreibenden Moment, aber der ist sehr gut in die Story integriert. Gordies am Lagerfeuer erzählte und auch in Filmform visualisierte Geschichte von dem stark übergewichtigen Riesenarsch mag da vordergründig wie ein Fremdkörper erscheinen, fängt genauer betrachtet jedoch aufs Wunderbarste ein, dass der introvertierte Gordie, der gern schreibt, zwar noch ganz Kind ist, weil simple Kotzorgien als großer Rachefeldzug in einem zwölfjährigen Gehirn noch der Gipfel der Komik sein mögen. Dadurch, dass er die Geschichte allerdings unmittelbar nach der Rache offen enden lässt, ohne sich einen Schluss für Riesenarsch auszudenken, zeigt Gordie, dass er bereits die Form der Kurzgeschichte beherrscht und somit weiter ist als beispielsweise Teddy, der sich einen Amoklauf als knalliges Finale gewünscht hätte.
Der Feinschliff, dem die vier jungen Hauptfiguren in der Charakterzeichnung unterzogen wurden, fehlt der in einem Parallelstrang agierenden Jugendbande rund um Ace (Kiefer Sutherland), die der Clique das Leben sehr schwer macht und am Ende ihrerseits Anspruch auf die Leiche erhebt. Dafür gibt es auch hier einige schöne Einblicke in das Leben von Jugendlichen zu der Zeit, die wiederum an ganz anderen Dingen Freude haben als Gordie & Co., nämlich Frauen, Saufen, schnelle Schlitten und „Briefkasten-Baseball“. Gerade Ace gefällt sich als Anführer sehr in der Rolle des Bad Guys, auf den die anderen Bandenmitglieder ehrfürchtig aufschauen, vor dem sie jedoch gleichzeitig Angst haben. So einen Typen kennt wohl jeder.
Im Zusammenspiel mit den wunderbaren Kinder- und Jugenddarstellern (Feldman und Sutherland dürfen dabei besonders hervorgehoben werden) ergibt sich ein zutiefst einfühlsames Coming-of-Age-Drama, das wie kaum ein zweiter Film das Publikum im Fernsehsessel in seine eigene Kindheit zurückversetzt. Spätestens wenn auch bei der nächsten Sichtung der erwachsene Gordie (Richard Dreyfuss), der die Ereignisse jenes Sommers erzählt, in der letzten Szene „Ich hatte nie mehr solche Freunde wie damals, als ich zwölf war, aber, mein Gott, wer hat das schon?“ resümiert und die ersten Töne von Ben E. Kings „Stand by Me“ erklingen, werde ich wieder von Wehmut erfüllt sein – Wehmut darüber, dass so eine Zeit nie wieder kommen wird, in der man noch völlig ohne die Sorgen der Erwachsenen war. So einen Film kann man nicht viel besser machen. 9/10.