"Never let me go" (Alles, was wir geben mussten) fängt mit einer Einblendung an, die besagt, dass es seit den 1950er Jahren keine tödlichen Krankheiten mehr gibt und die durchschnittliche Lebenserwartung ein Jahrzehnt später schon bei 100 Jahren lag. Die junge Frau (Carey Mulligan), die darauf hin aus dem Off zu sprechen beginnt, befindet sich offensichtlich in den 90er Jahre, sieht durch eine Glasscheibe in einen Operationssaal, während ein Patient herein geschoben wird, und erzählt von ihrem Job als Betreuerin, der ihr meist viel Freude bereitet hätte, sie aber zuletzt auch stärker mitgenommen hätte. Genauere Informationen schildert sie nicht, nimmt aber die Operation zum Anlass, die Geschichte von Ruth, Tommy und ihr selbst, Cathy, zu erzählen, die ein gemeinsames Schicksal verbunden hat.
Wer diese rudimentären Information dazu nutzt, um sein Fachwissen für Science-Fiction-Szenarios anzuwenden, kann sich die Mühe sparen, denn nur wenige Minuten später klärt die Lehrerin Lucy (Sally Hawkins) die etwa 13jährigen Kinder ihrer Schulklasse in einem altehrwürdigen englischen Kindererziehungsheim über ihre zukünftige Funktion als Organspender auf. Das kostet sie ihren Job. Die autoritäre Direktorin Miss Emily (Charlotte Rampling) spart vor der versammelten Schule entsprechend nicht mit Kritik an einer Lehrkraft, die sich gegen die Modernisierung einer Gesellschaft gestellt hätte.
Schon zuvor, gleich nachdem der Film in die 70er Jahre zurück geblendet war, um sich Cathy, Ruth und Tommy während ihrer Schulzeit zu widmen, wurde Miss Emilys Haltung zur Erziehung der Kinder deutlich, als sie ihnen ein Glas mit drei Zigarettenstummeln als Symbol dafür vorhielt, welch hohe Anforderungen sie an die Insassen ihrer elitären Schule stellt. Wer daraus wiederum folgert, hier Zeuge einer harten englischen Schulerziehung zu werden, wird enttäuscht werden, denn außer, dass die Kinder mit Horror-Geschichten davon abgehalten werden, das Schulgelände zu verlassen oder sich ungesund zu verhalten, ist das Leben trotz der altmodischen Schuluniformen verhältnismäßig entspannt. Es scheint keine Prüfungen zu geben, der Kunstunterricht ist von besonderer Bedeutung, und die Vermischung von Jungen und Mädchen wird keineswegs unterbunden.
Die gesamte Story des Films, auch das Erleben von Cathy, Ruth und Tommy ließe sich problemlos in drei kurzen Sätzen zusammen fassen, denn "Alles,was wir geben mussten" ist weniger ein Film über die Dinge, die geschehen, als über die Dinge, die nicht geschehen. Das es keine Noten oder Abschlusszeugnisse an der Schule gibt, keine Diskussionen über weiterführende Schulen und auch keine Eltern oder Verwandten, die zu Besuch kommen oder schreiben, bleibt unerwähnt. Alles was zu einem üblichen Leben fehlt, unabhängig von individuellen Lebensentwürfen, erschließt sich nur aus dem Vergleich mit den eigenen Erfahrungen. Der Film nimmt konsequent die Haltung der Erzählerin ein, die über die Dinge des Lebens nur so berichten kann, wie sie sie kennengelernt hat.
Das sich der Film sehr langsam Cathys Leben nähert, nur wenige Ausschnitte daraus sehr genau und konzentriert darstellt, ist folgerichtig, denn ihr vorbestimmtes und auf eine kurze Lebensdauer ausgerichtetes Dasein wird nicht von Aktionismen, sondern von ihrem Empfinden geprägt, das besonders dank Carey Mulligans herausragender Darstellung zunehmend Raum gewinnt. Die Mechanismen und Regeln werden oft erst im weiteren Verlauf, teilweise erst nach dem Ende des Films ersichtlich, was letztlich zum eigentlichen Mittelpunkt führt - Cathys Liebe zu Tommy (Andrew Garfield). Als sich die beiden als Teenager annähern, wirkt das noch wie die übliche Liebelei unter 13jährigen. Aber als sich Ruth dazwischen drängt, Tommy schneller verführt als die schüchterne Cathy, bekommt diese Konstellation einen seltsamen, verstörenden Charakter, der sich noch durch den erzählerischen Zeitsprung in die 80Jahre verstärkt.
Tommy und Ruth (Keira Knightley) sind als junge Erwachsene immer noch ein Paar, während Cathy, die mit ihnen und einem anderen, aus einer anderen Schule stammenden Paar, zusammen nach dem Ende der Schulzeit in einem Landhaus wohnt, immer noch auf Tommy hofft. Konnte man als Betrachter das Verhalten der Schüler in dem abgeschlossenen Bereich einer einsam gelegenen Schule, beaufsichtigt von strengen Lehrerinnen, noch nachvollziehen, auch wenn die Gewichtung der Regeln seltsam blieb, haben die jungen Erwachsenen jetzt alle Freiheiten. Zwar haben sie einen Chip im Arm, mit dem sie sich in ihrem Haus einloggen, aber sie können problemlos mit dem Auto überall hinfahren. Zudem lässt Ruth kaum eine Gelegenheit aus, sich über die einsame Cathy lustig zu machen, während es Tommy, trotz seine offensichtlichen Zuneigung für sie, nie gelingt, sich neu zu entscheiden. Warum lässt sich Cathy das gefallen?
Zudem rückt der Zeitpunkt der Organspende für die jungen Erwachsenen immer näher, der auch ihre Gespräche bestimmt. Besonders diskutiert wird das Gerücht, dass man als Paar einen Aufschub beantragen könnte, wenn man seine Liebe zueinander glaubwürdig beweisen könnte. Eine andere Form der Flucht aus ihrem vorbestimmten Schicksal, kommt nicht vor. Im Gegenteil wird auch über die Qualität ihrer Aufgabe und die eigene Erwartungshaltung daran gesprochen. So gilt es als besondere Leistung, erst nach der vierten Organspende zu "vollenden" - der geschönte Begriff für den "Tod".
Es hat schon eine Vielzahl von Filmen gegeben, die sich der Thematik des menschlichen Klonens, besonders im Sinn als Ersatzteillager, widmeten. Sie alle waren sich in ihrer Kritik daran einig, aber sie betrachteten diese Zukunftstechnologie von außen, aus der Perspektive des "Originalmenschen", der daran teilnahm, wie sich die Klone wehrten und damit ihr Recht als Individualisten verdienten. In "Alles, was wir geben mussten" konfrontiert dagegen zunehmend die Tatsache, dass sich Cathy und ihre Leidensgenossen nicht wehren, sondern sich passiv ihrem Schicksal ergeben. Dieses Gefühl verstärkt sich noch durch die wachsende emotionale Identifikation mit der Protagonistin - mit ihrer individuellen Schönheit, ihrer Intelligenz und ihrem liebevollen, unangepassten Wesen, wobei der Film keineswegs die "Klone" idealisiert, sondern Cathy den passiven, zu hilflosem Jähzorn neigenden Tommy und die eifersüchtige, egoistische Ruth gegenüber stellt.
In "Alles, was wir geben mussten" werden keine Antworten serviert und keine Verhaltensweisen erklärt, sondern Fragen aufgeworfen, die erst langsam ein Nachdenken über die Situation der Protagonisten entstehen lassen. In Cathys Welt kommen keine Familienangehörigen vor, auch keine eigenen Kinder - wahrscheinlich wurden sie schon von Beginn an sterilisiert, weshalb auch die sexuellen Kontakte für die sonst so konservative Umgebung kein Problem darstellte. Im Gegenteil konnten sie so nur Nähe zu einem anderen Menschen erfahren, weshalb auch Ruths Reaktion verständlich wird. Angesichts der Tatsache, wie wichtig Vater, Mutter und andere Vorbilder für die Entwicklung eines Menschen sind, um in der Lage zu sein, Selbstbewusstsein zu entwickeln und eine eigene Lebensperspektive aufzubauen, wird erst langsam deutlich, welche Verbrechen an den geklonten Kindern ausgeübt wurden, ohne das man rigide Gewalt ausüben musste, wobei es der Film offen lässt, ob das einem Ernstfall nicht auch geschehen wäre, der nur nicht zu Cathys Erfahrungshorizont gehört.
Diese konkreten Überlegungen werden im Film nicht berührt, aber sie stellen sich durch die Identifikation mit der Frau Cathy H. , die nichts anderes ist als ein Mensch. Nur darum geht es in diesem Film (9/10: