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Ein Traum. Wir wissen alle was ein Traum ist, und wenn wir morgens um 5 auf die Uhr schauen, dann nochmal ein wenig schlummern, etwas träumen, und nach einem, gefühlt eine Stunde dauernden, Traum wieder auf die Uhr schauen, und es erst kurz nach 5 ist, dann fühlen wir uns verwirrt.

Was ist nun, wenn wir in einem Traum einschlafen und träumen? Uns in eine nächste Ebene träumen, wo die Zeit wieder langsamer vergeht? Wenn wir die Geheimnisse und Phantasien, die Menschen so in ihren Träumen an das Licht des … Tages? … holen, wenn wir die dort auf dieser zweiten Ebene einfangen könnten? Und die ganz tiefen Geheimnisse, die ganz tief im Unterbewusstsein liegen, wenn wir die in der dritten Traumebene aufspüren könnten?

Womit die Handlung von INCEPTION beschrieben wäre. Cobb und sein Team sind darauf spezialisiert, in die Träume anderer Menschen einzudringen und dort Geheimnisse zu stehlen. Geheimnisse, die so tief im Gehirn anderer Menschen vergraben sind, dass es mehrere Ebenen Träume braucht, um diese aufzuspüren. Wenn man aber Träume ausspionieren und gewissermaßen stehlen kann, dann kann man auch, dort drinnen im Unterbewusstsein, im Empfindsamsten und Gefühlvollsten was der Mensch hat, im Spinngewebe der Gedanken, Erinnerungen und Sehnsüchte, dann kann man dort drinnen auch einen Gedanken einpflanzen. So behutsam, dass der Mensch, in dessen Unterbewusstsein Cobb sich gerade bewegt, denkt, dass er diesen Gedanken selber gefasst hat. Der Auftrag zu dieser Aktion kommt von einem Industriellen: Cobb soll einen Konkurrenten dazu bringen, seinen weltbeherrschenden Trust in mehrere unabhängige Firmen zu teilen.

Was aber natürlich nichts anderes als ein McGuffin ist, also ein Objekt, welches dazu dient, die Handlung in Gang zu bringen. Denn der Auftrag selber ist für den Film nicht interessant, viel interessanter sind die Bilder. Die Ebenen, die wie Schichten übereinander liegen. Und in jeder Schicht vergeht die Zeit anders. In der obersten (Traum!-) Schicht stürzt ein Lieferwagen von einer Brücke in einen Fluss. Geschätzte Zeit bis zum Aufprall auf das Wasser: 5 Sekunden. In der nächsten Ebene, in der einer von Cobbs Leuten gegen feindliche Agenten um das Überleben der Gruppe kämpft, sind dies schon 3 Minuten, und da der Lieferwagen sich im freien Fall befindet, hat es auf dieser Ebene in diesen Minuten keine Schwerkraft. Noch eine Ebene weiter ist der Safe im Kopf des Beraters der eigentlichen Zielperson: Eine Betonfestung in einer verschneiten Wildnis, bewacht von schwer bewaffneten Soldaten. Zeit bis zum erfolgreichen Eindringen: Eine Stunde. Und wer hier stirbt, der wacht nicht mehr auf, sondern kommt in den Limbo, die unterste Schicht der Träume, wo 50 Jahre einer Stunde in der Realität entsprechen.

Cobb hat mit seiner Frau 50 Jahre im Limbo verbracht, und sie haben dort eine vollständige eigene Welt aufgebaut, nur für sich beide. Und als sie zurückkamen, als sie aufwachten, waren ihre Seelen um 50 Jahre gealtert und sie wurden von ihrer eigenen Jugend überwältigt. Cobbs Frau hat dies nicht verkraftet und sich umgebracht, was bei Cobb dazu geführt hat, dass er seine tote Frau nicht mehr aus seinen Träumen heraushalten kann. Und sie in seinen Welten seine Pläne und Aktionen sabotiert.

Verwirrt? Der Film ist nichts, wo man nebenher mal eben aufs Klo geht oder Mails checkt! INCEPTION ist zweieinhalb Stunden Dauerbeschuss von Informationen und anderen Welten, die so schnell vergehen wie eine Stunde (Was zur Frage führt, auf welcher Traumebene die gesehene Blu-ray läuft …). INCEPTION ist Eskapismus in seiner höchsten Vervollkommnung: Was wäre, wenn wir uns eine eigene Traumwelt bauen könnten, in der wir kaum altern, und nicht auf Bedürfnisse wie Nahrungsaufnahme oder gar –beschaffung Rücksicht nehmen müssten? Wenn wir mit der Kraft der Gedanken ganze Städte bauen und darin herumlaufen könnten, ohne dafür Energie aufzuwenden? Selbst ein schriftstellerischer Akt ist mit Energieverbrauch verbunden, und auch Regisseure müssen irgendwann schlafen und essen. Im Limbo entfällt dies alles. Ein … Traum?

Bei aller Komplexität, und so ein Thema kann nur mit einem hohen Komplexitätsgrad abgehandelt werden, schafft Christopher Nolan das unglaubliche Kunststück, eine hochphilosophische Handlung zu verbinden mit einer actiongeladenen Handlung, die mit spannenden Verfolgungsjagden, aufwendigen Schießereien und raffinierten Zweikämpfen so verschwenderisch umgeht wie jeder Scott Adkins-Film. Ohne dabei aber den gedanklichen Unterbau zu vergessen. Klar, bei so einem Thema hat es zwangsläufig jede Menge Logikfehler im Ablauf, aber wer sich einen Fantasyfilm anschaut um nach Logikfehlern zu suchen, der sollte mal in seinen eigenen Träumen nachschauen ob dort alles immer ganz logisch ist. Träume haben ja eben den Charme(?), dass sie nicht immer logisch fortführend sind. Warum sollte also ein Film über Träume in Träumen in Träumen komplett der Realität(?) entsprechen?

Was ist Traum? Und was ist Realität? Cobb hat ein simples Mittel, um zu testen ob er in der Realität ist: Er dreht einen kleinen Stahlkreisel. In der Wirklichkeit hört dieser irgendwann auf sich zu drehen und fällt um, in der Traumwelt dreht er sich immer weiter und weiter. INCEPTION ist wie ein Traum: Im Kopf des Zuschauers bilden sich Möglichkeiten, neue Bilder, neue Welten, und der Film dreht sich immer weiter. Wie ein kleiner Stahlkreisel, der Landkarten von Universen vorgaukelt, die niemals erfasst werden können.

INCEPTION ist im Oeuvre Christopher Nolans das Bindeglied zwischen dem rückwärts erzählten MEMENTO und dem die Zeit rückwärts laufen lassenden TENET: Hier ist die Zeit zwar bis auf eine Ausnahme linear, aber dafür hat sie verschiedene Fließgeschwindigkeiten. INCEPTION ist philosophisches Actionkino für Anspruchsvolle. Ist ein interpretationsfähiger Diskurs über das Wesen der Zeit. Ist verdammt noch mal ganz großes Kino aus der Traum-Fabrik …


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