„Rififi im Klartraum"
Der Begriff „Traumfabrik" als Synonym für Hollywood war immer schon etwas schwammig. Die US-amerikanische Filmindustrie fabrizierte keine Träume im eigentlichen Sinn, sondern kümmerte sich vornehmlich um Alltagsfluchten, die sich nicht selten aus Wunschträumen speisten. Der neue Film von Christopher Nolan kommt dem Ursprungsbegriff scheinbar wieder etwas näher, nur um diesen dann einen ganz neuen, äußerst beunruhigenden Bedeutungshintergrund zu geben. In Inception geht es zwar konkret um die Erschaffung von Träumen, allerdings nicht zum Ausgleich fürs triste Alltagsleben. Eine Gruppe hochspezialisierter Profis hat eine Methode entwickelt, mit der man in die Träume anderer Menschen eindringen kann, um auf diese Weise an geheime Informationen zu kommen. Das ist Spionage auf einem ganz neuen Level.
Themen wie Wahrnehmung, Täuschung, Illusion, das Durchleuchten der menschlichen Psyche und nicht zuletzt das lustvolle Spiel mit diversen Realitäten ziehen sich wie ein roter Faden durch Nolans bisheriges Oeuvre. Seine (Anti-)Helden haben dabei stets mit nicht gerade alltäglichen mentalen und psychologischen Problemen zu kämpfen, sei es Gedächtnisschwund (Memento), Schlaflosigkeit und Halluzinationen (Insomnia) oder die Problematik einer innerlich zerrissenen Doppelidentität (Batman Begins, The Dark Knight). All dies findet sich auch wieder in Inception, nur - zumindest auf den ersten Blick - eine ganze Nummer größer, bombastischer, vielschichtiger und komplexer.
Bereits seit seinem 16. Lebensjahr soll Nolan sich nach eigener Aussage mit der Grundidee auseinandergesetzt haben, die Welt des Verstandes filmisch zu erobern. Das Leben im Traum als eine parallele Realität abzubilden, sei für ihn schon immer ein Faszinosum der besonderen Art gewesen. Vor allem der sogenannte „Klartraum" (auch „luzider Traum"), also die Phase in der man sich des Traumzustandes bewusst ist, damit in den Verlauf des Traumes eingreifen und sogar innerhalb des Traumes handeln kann, spielt eine wesentliche Rolle für das erzählerische Rückgrat von Inception.
Dom Cobb (Leonardo DiCaprio) betreibt Wirtschaftsspionage der besonderen Art. Er „extrahiert" geheime Informationen aus dem Unterbewusstsein seiner Opfer während diese träumen. Auch der mächtige Konzernchef Saito (Ken Watanabe) hat von Cobbs Fähigkeiten gehört und engagiert den „Extractor", um seinen härtesten Konkurrenten Robert Fischer (Cilian Murphy) auszuschalten. Doch dieser Auftrag führt Cobb in die Grenzbereiche seiner Profession. Er soll keine Idee stehlen, sondern dem Opfer einen Gedanken einpflanzen, der schlussendlich zur Zerstörung seines Imperiums führen wird. Dazu muss Cobbs Team eine eigene Traumwelt konstruieren in der es Fischer mit der für ihn fatalen Idee „infizieren" kann. Diese auch als „Inception" bezeichnete Methode ist kaum erprobt und birgt enorme Risiken für alle Beteiligten ...
Schluckt man die Prämisse, dass es ein Verfahren zur Traummanipulation gibt, wird man mit einem der intelligentesten, cleversten und spannendsten Mainstreamfilme der letzten Jahre belohnt. So überaus komplex bzw. kompliziert wie allerorten behauptet, ist die Handlung dann aber auch wieder nicht. Vielmehr scheint die seit Jahren zu beobachtende Banalität und Vorhersehbarkeit großer Studiofilme eine abstumpfende Wirkung auf die grauen Zellen des Kinopublikums gehabt zu haben. Nolan erklärt in der ersten Stunde von Inception bis ins kleinste Detail Technik und Vorgehensweise der „Traumpiraterie", so dass man als Zuschauer bestens für den eigentlichen Plot gerüstet ist. Zudem sind die diversen Traumebenen die zu Fischers Manipulation durchgespielt werden müssen optisch klar voneinander getrennt und somit relativ leicht auseinander zu halten. Aufpassen muss man lediglich bei der Unterscheidung zwischen Traum und Realität, denn hier scheinen die Übergänge fließend und die Grenzen immer mehr zu verschwimmen. Das macht aber auch den eigentlichen Reiz des Films aus und war sicher so gewollt, schließlich ist dies einer der zentralen Nolanschen Motivkomplexe.
Inception ist allerdings keineswegs reines Kopfkino, sondern auch ein optischer Hochgenuss. Wie schon in The Dark Knight bieten Nolan und sein Lieblingskameramann Wally Pfister edel-düstere Bilder, außergewöhnliche Kameraperspektiven und prächtige Kulissen. Am beeindruckendsten sind hier sicherlich die ersten Gehversuche der neu angeheuerten Traumarchitektin Ariadne (Ellen Page), die in ihrer überbordenden Phantasie Paris praktisch zusammenfaltet. Die visuelle Umsetzung der einzelnen Traumebenen bleibt allerdings erheblich konservativer und verzichtet auf solch surreale Bilder. Eine nachvollziehbare Entscheidung Nolans, der ob seines enormen Budgets von 170 Millionen Dollar ein Massenpublikum bei der Stange halten muss und seine intellektuell anspruchsvolle Handlung offenkundig nicht auch noch zusätzlich mit sämtliche Sehgewohnheiten sprengenden Bildern überfrachten wollte.
Ähnliches gilt für die spektakulären Actionszenen. Im Stil eines Jump´n´run-Games erhält jede Traumphase ein völlig neues Action-Setting. Nolan knüpft dabei an das visuelle Vorwissen der Zuschauer an und zitiert kräftig bei diversen Genreklassikern. Ebene eins von Fischers Traum könnte auch eine Gemeinschaftsarbeit von Michael Mann und Paul Greengrass sein, erinnert die bleihaltige Autoverfolgungsjagd im strömenden Regen doch frappierend an Heat und die beiden Bourne-Sequels. Die zweite Traumebene wirkt wie ein verschollenes Kapitel aus Brian dePalmas Mission Impossible und Ebene drei ist eine offenkundige Hommage an Willy Bogners sagenhafte Ski-Stunts für das Bond-Abenteuer Four your eyes only. Nolan hat nie ein Geheimnis aus seiner Begeisterung für die 007-Filme und seinem Wunsch dabei einmal Regie zu führen gemacht und tatsächlich wirkt Inception stellenweise wie ein leidenschaftliches Bewerbungsschreiben an die Bond-Produzenten. Stilisierte Bilder, mondäne und vor allem zahlreiche Schauplätze, fulminante Action-Sequenzen und ein ausgeklügelter „Larger than life-Plot" gehören zur Grundausstattung eines jeden Bondfilms. Auch die Psychologisierung der Hauptfigur passt wunderbar in die neue Ausrichtung der langlebigen Franchise, zumindest seit Daniel Craig den Geheimagenten deutlich vielschichtiger angelegt hat.
Auch Leonardo DiCaprios Dom Cobb ist alles andere als ein eindimensionaler Heldencharakter. Er ist mindestens ebenso so stark traumatisiert wie spezialisiert. Die Mitschuld am Freitod seiner Frau Mal (Marion Cottilard) lässt ihn nicht zur Ruhe kommen und ist damit eine ernsthafte Gefahr für seine Raubzüge ins Unterbewusstsein. Mal taucht regelmäßig und an den unpassendsten Stellen in seinen Träumen auf und nimmt Einfluss auf Cobbs Handlungen. Seltsamerweise funktioniert dieser Konflikt lediglich für das Spannungspotential des Films, lässt den Zuschauer auf emotionaler Ebene aber weitestgehend unberührt. Ein Problem das in Nolans Filmen häufig zu beobachten ist und vor allem in seinem Magierthriller Prestige unangenehm auffiel. Trotz seiner souveränen Darstellung will die Identifikation mit DiCaprios Charakter einach nicht so recht gelingen. Wieder einmal ist eine wesentliche Figur im Nolanschen Universum weit mehr psycholgisch interessant als emotional relevant.
DiCaprio spielt letzlich eine ganz ähnliche Figur wie in Martin Scorseses Psycho-Thriller Shutter Island, einen Mann der in seinen eigenen Träumen gefangen ist und irgendwann nicht mehr weiß, was real ist und was nicht. Genau darin liegt auch die Hauptfaszination des Films, nicht den Überblick zwischen den diversen Realitäts- und Traumebenen zu verlieren. Und Christopher Nolan hat allerlei Fallstricke eingebaut und falsche Fährten gelegt, um den grauen Zellen seines Publikums ordentlich Futter zu geben. Inception gleicht damit einer audiovisuellen Schnitzeljagd, bei der nur der ans Ziel kommt, der an den richtigen Stellen die entsprechenden Hinweise entschlüsselt. Diese Dekodierung kann aber nur bis zu einem bestimmten Punkt gelingen. Denn ähnlich wie in Prestige oder auch The Dark Knight hat Nolan keine simple und alle zufrieden stellende Schlussauflösung parat. So bleibt der finale Twist interpretativ und versieht Inception mit der Nolan-typischen mystischen Note.
Am Ende bleibt ein vor allem visuell beeindruckender Traum von einem Film über Träume und die Erkenntnis, dass Hollywood doch noch in der Lage ist, Kommerz und Anspruch zu verbinden. Aber vielleicht hat Nolan bei den Studiobossen von Warner auch eine Inception durchgeführt und in deren Unterbewusstsein die vermeintlich absurde Idee eingepflanzt, dass man auch für ein denkendes Publikum ruhig einmal ein Blockbusterbudget bereitstellen könnte. Wie auch immer, der Coup ist gelungen. Und das ist kein Traum, sondern eine ganz reale Tatsache. Oder dreht sich der Kreisel immer noch?