Ist es eigentlich ungerecht, einen großartigen Film auf seine Moral in einem Sprichwort zusammenzukürzen? Fahrraddiebe entspräche in etwa: “Was du nicht willst, das man dir tut, das füg’ auch niemand anders zu.”. Dabei erzählt Vittorio De Sica in seinem neorealistischen Film von einem ungeschönten Italien. Sein Interesse gilt dem Arbeitermilieu; denen die eine Jobsuche bereits aufgegeben haben und Männer wie Antonio Ricci, der nach langer Zeit des Sehnens nun endlich eine Arbeit gefunden hat.
Als Plakatkleber benötigt er sein Fahrrad. De Sica unterstreicht die Wichtigkeit dieses Schrittes, indem er die Riccis mit den zusammengezurrten Bettlaken zum Pfandleihhaus marschieren läßt, wo Antonio zuvor seinen Drahtesel beliehen hat. Will er eine Zukunft für seine Familie, so muß er auf den Komfort verzichten. Der neue Job verspricht ein ausreichendes Auskommen. Den Rest möchte die Frau gern einer Wahrsagerin auszahlen, ein Indiz für den Aberglauben in der Not, wo selbst die Kirche nur einen kleinen Teil zur Linderung beitragen kann.
Fahrraddiebe beschreibt nun ein Ausgeliefertsein. An seinem ersten Arbeitstag wird Ricci das Fahrrad entwendet. Er verfolgt den Dieb schnurstracks, doch dieser entwischt. Was bleibt ihm nun? Seine Arbeit kann er nicht wahrnehmen. Eine Anzeige bei der Polizei bringt ihm nicht mehr als die Registrierung seiner Rahmennummer. Für mehr hat man dort weder Zeit noch Lust. Doch viel Handhabe bleibt den Beamten in diesem Fall auch nicht, so entsteht der Eindruck, daß diese Diebstähle an der Tagesordnung stünden.
Mit seinen Freunden von der Müllabfuhr durchkämmt Ricci den Fahrradmarkt, doch auch hier finden sich keine Indizien. Als er in einem Armenviertel einen arbeitslosen Mann als den Dieb entlarvt, steht das ganze Viertel hinter dem Beschuldigten. Ohne Zeugen kann ihm auch ein Polizist nicht behilflich sein. Es ist aussichtslos. Riccis Verzweiflung geht ins Unermeßliche. Er ist doch der Mann, der sich nicht aufgegeben hatte, der nicht in illegale Aktivitäten verfallen ist. Warum also er? Warum kann ein Taugenichts die Gesetze brechen? Warum soll nicht auch er, Ricci, das Heft in die Hand nehmen und seine Familie ernähren können?
Vittorio De Sica schafft in seinem Film Fahrraddiebe eine traurig-authentische Kulisse. Am existentiellen Beispiel seiner Hauptfigur, einem unnachgibig nach vorn strebenden Arbeiter, der jedoch nicht ohne Fehler und Zweifel ist, leitet er zu der Erkenntnis, daß zur Kriminalität zwar immer eine freie Entscheidung gehört, diese jedoch durch die Umstände deutlich beeinflußbar ist. Die Erkenntnis beinhaltet jedoch auch, daß es in diesem kriminellen Sog immer noch ein Ergeben gegenüber einer anderen Laufbahn gibt.
Will Ricci diesen Abstieg wirklich in Kauf nehmen? Sein zögerndes Handeln, dieser gefühlte Moment der Stille, wo Augen sprechen und die Wahrheit zwischen den Beteiligten – und dem Zuschauer – vermitteln, daß Antonio Ricci ein ehrlicher Mann ist, der für seine Familie immer wieder aufstehen und arbeiten wird, ist von solcher Erhabenheit, welche der einfachen Geschichte zu einer unermeßlichen Größe verhilft.
Die aus diesem Gleichnis geborene Moral trifft schließlich uns alle, indem sie das oben erwähnte Sprichwort enthält. Jeden Tag haben wir alle unsere Entscheidungen zu treffen. Für uns geht es vielleicht nicht immer um Leben oder Tod, jedoch hat jeder Schritt seine Bedeutung. Nicht was andere tun sollte unsere Entscheidung steuern, sondern wovon wir überzeugt sind. Die einzige Möglichkeit Antonio Riccis diesem Teufelskreis zu entrinnen ist seine menschliche Größe. Es bleibt ihm nichts, als das ihm zusetzende Schicksal zu akzeptieren und wieder anzufangen.
Fahrraddiebe ist keine Geschichte, welche die Bitterkeit dieser Pille verschweigt. Schwer ist es daher, neuen Mut aus dem Film zu fassen. Gleichwohl kommt es einem seufzend gerade deshalb so ehrlich, so wahr vor, und dies alles, ohne daß sich De Sica ins Intellektuelle verrennt. Deshalb ist eins ganz bestimmt der korrekte Entschluß, nämlich sich Fahrraddiebe anzusehen.
Als Regieassistent arbeitete hier übrigens Sergio Leone, der auch in einer kleinen Rolle als Student zu sehen ist.