Hmmm, deliziös!
Wenn Kino heutzutage mit einem Besuch bei einer bekannten Fast Food-Kette zu vergleichen ist oder allerhöchstens mit einer schnellen Pizza vorneweg, mundet die "Die neun Pforten" im Vergleich dazu wie ein Filet Wellington.
Wenn auch im Rahmen der zur Jahrhundertwende neu aufgelebten "Der Teufel auf der Leinwand"- Horrorreihe gestartet, hebt sich der Film doch wohltuend von den konventionellen Teufelsthrillern ab, was nicht zuletzt an seiner ungewöhnlichen literarischen Vorlage liegt.
Sprechen wir also kurz vom Roman Arturo Perez-Revertes, der, obschon noch recht unbekannt, zu einer unterhaltsamen Okkult-Pflichtlektüre werden sollte, obwohl er mit seinen übernatürlichen Elementen nur sehr sehr sparsam umgeht. Der Roman ist zweigeteilt, er verbindet zwei gleichzeitig von Dean Corso verfolgte Aufträge, einmal die hier dargestellte Jagd auf die neun Pforten, deren Elemente hier alle vertreten sind, zum anderen die Verifizierung eines alten Kapitel von Dumas "Die drei Musketiere", die zu einer mysteriösen Geheimgesellschaft führt. Dieser zweite Strang ist hochunterhaltsam und bisweilen sehr komisch, findet filmisch seine Entsprechung jedoch nur sehr entfernt in dem Teufelszirkel, der im Film nebenbei rotiert. Polanski konzentrierte sich im Film sehr auf die unheimlichen Teile der Erzählung und verdichtete sie auf unnachahmliche Weise.
Schon die Einleitung des Films beleuchtet wortlos alle wichtigen Elemente, wenn sich der Ex-Besitzer des Buches sich in der Bibliothek seines Hauses am Kronleuchter erhängt. Die Kamera fängt ihn schreibend am Tisch ein, schwenkt seitwärts auf den Hocker, schwenkt hoch auf die Schlinge. Im Hintergrund Bücher über Bücher. Nach dem Selbstmord fährt die Kamera an den Buchreihen entlang, um schließlich bei einer Lücke zu stoppen. Das Geheimnis des fehlenden Buchs wird hier zu lösen sein und Polanski fährt mit der Kamera in das Dunkel der Bücherlücke, wo uns in einer furiosen Kamerafahrt durch die Finsternis zu der nackenhaareaufstellenden düsteren Eingangsmusik Wojciech Kilars die Vortitel entgegengeschwebt kommen, während wir in der entgegengesetzen Richtung die neun Pforten ins Reich der Finsternis durchqueren, bis uns am Ende ein strahlendes Licht einhüllt.
Selten war eine Einführung in den letzten Jahren von derart fulminanter atmosphärischer Qualität und konnte seine Zuschauer so mitreißen.
Anschließend gönnt uns Polanski einen Blick auf unseren "Helden", obwohl das Wort selten unpassender gewesen ist, wenn es um den Protagonisten ging. Dean Corso aka Johnny Depp ist ein Bücherjäger, ein Söldner, der sich stets an den Meistbietenden verkauft, wenn es darum geht, ein seltenes, altes Buch zu besorgen, sobald irgendwo eine Sammlung aufgelöst wird. Corso arbeitet für Geld, nicht mehr, nicht weniger. Gleich in der Einführung luchst er geschickt einem geldgeilen jungen Pärchen eine megawertvolle Ausgabe des Don Quichotte für einen Dumpingpreis, während der schlaganfallgeschädigte Besitzer im Rollstuhl sitzend bei dem Betrug nicht eingreifen kann. Gleichzeitig reißt er auch noch den eigentlichen Käufer mit falschen Preisvorstellungen rein.
Hiermit ist über den Charakter alles gesagt: Corso hat kein Gewissen, keine Skrupel, keine Freunde. Er ist ein gesellschaftlicher Außenseiter, respektlos, um den Wert seiner Arbeit wissend. Er lebt nur für seine Arbeit und den Scheck. Trotzdem ist er nicht unsympathisch, wirkt spröde jugendlich, wenn auch gefühlsmäßig unbeteiligt. Selten war Depp so gut besetzt, denn seine Optik und sein Typ entsprechen aufs Haar den Vorgaben von Revertes' Roman.
Anschließend trifft er auf seinen Meister, Boris Balkan aka Frank Langella, dem man schon von weitem ansieht, daß er zur Hölle fahren will/wird. Er besitzt die größte okkulte Büchersammlung, seine Codes laufen alle über die Ziffer 666 und er schickt Corso los, um die Echtheit seines der drei Exemplare des Buches zu verifizieren. Darüber hinaus weist die Einführung schon auf das Ziel hin, nämlich das Tor zur Hölle zu öffnen. Praktisch gleichzeitig führt Polanski auch das geheimnisvolle Mädchen ein, dessen Rolle über die volle Lauflänge nie ganz geklärt werden wird (außer man kennt das Buch), noch ein mysteriöser Faktor.
Anschließend gießt das Drehbuch ein ganzes Füllhorn seltsamer Geschehnisse aus, die Corsos Weg säumen. Er wird verfolgt, weiß jedoch nie von wem. Man greift ihn an, das Mädchen taucht auf und verschwindet wieder und der nicht zu fassende Balkan scheint überall und nirgends zu sein, ihm im Nacken zu sitzen, selbst die Aura des Übernatürlichen auszustrahlen (z.B. legt er nie auf am Telefon, die Leitung ist stets irgendwann tot).
Noch geheimnisvoller jedoch die Unterschiede und Rätsel, die Corso nebenbei aus den Büchern, bzw. aus den in ihnen enthaltenen mittelalterlichen Holzschnitten entnimmt.
Dabei stirbt nicht nur der einzige Mensch, der so etwas wie ein Vertrauter von ihm ist, eine ganze Reihe von Toten säumt Corsos Weg, ohne daß der Bücherjäger wirklich ernsthaft innehalten würde. Nichts bleibt ihm außer seinem Job und dessen Erfüllung treibt den Mann ohne Gewissen voran.
So rotiert dieses komplexe Mysterium durch den Film, der mit zunehmender Lauflänge eine immer größere Atmosphäre der Bedrohung annimmt. In Spanien erschlägt ein Gerüst Corso um ein Haar, als er in verlassenen Gassen zwei Buchrestauratoren besucht. In Portugal findet er ein Exemplar bei seinem psychisch schon leicht zermürbten und verarmten Besitzer wieder, der in den beinahe leeren, altertümlichen Räumen seines Herrenhauses lebt. All die alten Sets wirken in Relation zu unserer modernen Zeit fremd und schaffen in ihrer Größe und Weite ein Gefühl der Isolation. Dagegen hält Polanski mit beeindruckenden Landschaftsaufnahmen aus Frankreich, die einen guten Kontrast zu den Interieurs bieten.
Wie Corso bleibt dem Zuschauer so nur der Griff zu der geheimnisvollen Figur des Mädchens, daß zunehmend seinen Weg begleitet, ihm hilft, Andeutungen macht, auf ihn aufpaßt, seinen Weg vorzeichnet. Dabei filtert sich mehr und mehr das Bild eines übernatürlichen Wesens heraus, denn in zwei Szenen schwebt sie in die Szenerie, obwohl sonst nichts auf eine nichtmenschliche Herkunft hindeutet.
Leichte Abzüge gibt es dafür, daß Polanski das Holzschnitträtsel immer etwas stiefmütterlich behandelt. Wenn man nicht ständig aufpaßt, entgehen einem die Entdeckungen Corsos, und wenn sie auch später noch zusammengefaßt werden, hätte hier die Aura des Geheimnisvollen noch weiter gespannt werden können. Stattdessen verrennt sich der Film um ein Haar im Hickhack rund um die Teufelssekte, ehe er zu einem berauschenden Höhepunkt in der fantastischen Kulisse eines alten Schlosses kommt, gefolgt von einem mysteriösen Ende.
Und jetzt, da der Film einige Diskussionen um sein Ende ausgelöst hat, ein großer Schlußspoiler mit Deutungsversuch für alle Rätselrater. Wer jetzt also noch unkundig ist, oder es nicht wissen will, überspringe bitte den folgenden Absatz vollständig:
Am Ende stirbt Balkan, weil ihm die Höllenfahrt nicht gelingt. Als Erklärung wird von dem Mädchen angeboten, daß einer der Holzschnitte falsch war. Den findet Corso bei einem erneuten Besuch bei den Bücher-Zwillingen, die jedoch nicht mehr anwesend sind. Diese beiden Künstler haben offensichtlich zur Entschärfung mittels ihrer besonderen Fähigkeiten einen Druckbogen ihres Buchs entfernt und mit einer Kopie ausgetauscht. Mit diesem Fund hat Corso den neunteiligen Schlüssel für die Öffnung der neun Pforten und die Höllenfahrt.
Warum aber sollte er das tun? Und wer ist das Mädchen wirklich? Hier gibt der Roman Aufschluß. Das Mädchen ist, wie der Film optisch auch mehrfach andeutet (grüne Augen, Schweben, die Nummer vor dem brennenden Schloß), tatsächlich ein (nicht unbedingt der, aber immerhin ein) gefallener Engel, also ein Teufel, der müde und allein aufgrund seiner Verbannung aus dem Himmel auf Erden umgeht. Sie wird angezogen von Corso, der dem Idealbild eines höllischen Charakters am nächsten kommt, leer, kalt, freudlos, ohne Freunde, ohne wirkliche Vergangenheit, ohne Zukunft, gewissenlos, ein Getriebener oder oder fast ohne menschliche Charakterzüge, ein Wolf im Schafspelz, ein Seelenloser. Im Roman (und im Film wohl auch) verliebt sie sich in ihn und er erkennt seine Bestimmung am Ende. Die Öffnung der neun Pforten ist also kein Flammenportal in den siebten Kreis der Hölle für Teufelsanbeter, sondern eine innere Leere, ein Makel. Davon angezogen geht Corso am Ende ins Licht der neun Pforten und kehrt zu dem Mädchen zurück. Das ist dann ein farbigerer Schluß, während er am Ende des Buches einfach bei seinem gefallenen Engel bleibt, da sie einfach zusammengehören.
Polanskis Höllenfahrt ist, entgegengesetzt zu seinem Vor-Werk "Rosemaries Baby" ein sympathischer, wenn auch düsterer Umgang mit dem Willen zum Bösen. Eingefangen in prachtvolle, teilweise magische Bilder geht er nie mit Blut und F/X hausieren, baut die Schwebe-Effekte der Seigner beinahe beiläufig ein und deckt den Zuschauer mit möglichen Spekulationen ein. Das ist atmosphärischer Horror der alten Schule und um so wirksamer, da er bekannte Vorbilder ausspart, Konventionen vermeidet und somit alles anders macht, als man es von Horrorkino gewöhnt ist. Vielleicht nicht schlecht, wenn genrefremde Regisseure (auch wenn das nicht Polanskis erster Horror-Beitrag war) Genrekino - sie gehen unbelasteter an das Thema heran und verlassen sich auf ihr Können, weniger auf die Erwartungen eines erfahrenen Publikums.
"Die neun Pforten" können wirklich überraschen, auch wenn sie mit den Horror-Sehgewohnheiten auf elegante Art und Weise brechen. Genußvoller erzählerischer Horror - the Devil made him do it. (9/10)